Aus den Feuilletons

Kinofilm "Victoria": "Muss man das sehen? Ja, unbedingt!"

Szene aus dem Film "Victoria" von Sebastian Schipper mit Frederick Lau, Franz Rogowski und Laia Costa.
Szene aus dem Film "Victoria", der nun in die Kinos kommt. © Senator Film
Von Maximilian Steinbeis · 09.06.2015
In der Kulturpresseschau geht es unter anderem um den Kinostart von Sebastian Schippers "Victoria", der ohne einzigen Schnitt gedreht wurde. Kritiker von "FAZ" und "SZ" sind von dem Film begeistert.
Drei Schriftsteller feiern Geburtstag an diesem Feuilletontag: James Salter wird 90, Saul Bellow 100 und Dante Alighieri 750, und allen drei Herren scheint die Gabe gemeinsam, die deutsche bzw. schweizerischen Feuilletonistenseele aufs Tiefste zu erschüttern. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG lässt sich Thomas David von Saul Bellows Selbstentfesselung, seinem heroischen Kampf gegen die ihn umgebende Periode des Hartgesottenseins mitreißen.
"Es ist sein rückhaltloses, von Buch zu Buch fortgeschriebenes Bekenntnis zu den 'inneren Transaktionen' seiner in der Absurdität des Daseins gefangenen Figuren, das Bellow immer tiefer in die verborgene Mechanik des Herzens und der Seele eindringen ließ."
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG steigert Christopher Schmidt seine Bewunderung für das einstige Fliegeras der US Air Force James Salter in buchstäblich schwindelerregende Höhen: Salters Stilistik, so der SZ-Autor, sei "nicht tektonisch gebaut, sondern evokativ, flirrend wie verdunstendes Kerosin in der Sonne. Der offene Himmel war Salters Schreibwerkstatt, seine fließenden Satzkaskaden haben etwas von den Schleifen der Himmelsschreiber, sie gleichen einer Kalligrafie über den Wolken, flüchtig und strahlend wie ein Kondensstreifen in der Luft." Am tollsten aber treibt es Ambros Waibel in der TAZ. Dante ist sein Gegenstand, der Autor der Göttlichen Komödie, vor einem dreiviertel Jahrtausend geboren.
"Damals in den 1980er Jahren," erinnert sich der TAZ-Autor, "war Dante begraben in Zeit-Kulturaufmachern, ruhte in Tropenholzregalen, lag in Suhrkamp eingelegt in lichtdurchfluteten Salons auf Kaffeetischchen." Und heute, so zitiert er einen ungenannten Dante-Spezialisten, drohe Dante mitsamt dem ganzen europäischen Kanon "auf dem Müllhaufen des Untwitterbaren" zu landen.
"Ohne den panischen Druck der Echtzeitinszenierung"
Doch gegen derlei Kulturpessimismus immunisiert sich der TAZ-Autor durch einen Blick ins Original – und hebt förmlich an zu singen: "So lange, wie ich Dante lese, bin ich erwachsen und so lange bin ich pleite und schiebe und laviere und antichambriere, bei Banken und Verwandten, aaaah 'come sa di sale / lo pane altrui, e come è duro calle / lo scendere e 'l salir per l'altrui scale'." Was das auf Deutsch heißt, verraten wir nicht, weil es nämlich bei Dante, so Ambros Weibel, "verschärft schon mal so" ist, "dass Übersetzungen nichts bringen". Also lautet der Befehl: "'anfangen, Dante zu lesen, als Trallala, als 'belle'-'stelle': Und wäre", so schließt dieser schöne irre Text, "ein so immer wieder intensiv nebenbei, ein, wie es bei Mandelstam heißt, 'umkreister' Riesentext von mehr als 14.000 Versen - wäre der dann nicht doch und gerade auch ab und an: twitterbar?"
Die gleiche Frage könnte man wohl auch an Sebastian Schippers Film „Victoria" richten, der dieser Tage in die Kinos kommt. Das Besondere daran: seine 140 Minuten sind in einem Take gedreht, ohne einen einzigen Schnitt. "Filmische Experimente sind eigentlich das Letzte, was ein Kinozuschauer braucht", gähnt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG Andreas Kilb und fragt: "Muss man das sehen?" Kilbs tief beeindruckte Antwort:
"Ja, unbedingt! (...) Ohne den panischen Druck der Echtzeitinszenierung, die Schippers Helden wie an einer stählernen Schnur durch die schlafende Metropole in ihr Verderben zieht, würde der Film sich in eine lose Folge von Einzelmomenten auflösen.
Er lebt nur, solange seine Uhr tickt, solange der Zeiger, der unerbittlich auf das Ende zurückt, nicht stillsteht. Aber in dieser Zwischenzeit, in diesen knapp zweieinhalb Stunden Ausnahmezustand ist es er alles, was man sich vom heutigen Kino erhoffen kann."
Genauso überwältigt ist Tobias Kniebe in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG: "Das große Versprechen, todesmutig gegeben, beinahe schamanisch beschworen, löst sich tatsächlich ein."
Regisseur Sebastian Schipper, so der SZ-Kritiker, "ist der Mann für den irren Spielzug, der jeder Wahrscheinlichkeit Hohn spricht, für den Wahnsinnsschuss mit Ansage, der fast immer komplett in die Hose geht. Bis er dann, eines Tages, eben doch voll ins Schwarze trifft." Schade, dass Saul Bellow nicht mehr lebt. An dem Mann hätte er seine Freude gehabt. James Salter sicher auch. Vielleicht sogar, wer weiß, auch Dante Alighieri.
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