Aus den Feuilletons

In der Warteschleife des Lebens

04:12 Minuten
Jugendliche sitzt im Scheidersitz mit in die Hand gestützdem Kinn auf dem Bett und blickt in die Weite.
Die durch die Coronapandemie entstandene Isolation mache Jugendlichen und Kindern besonders zu schaffen, steht in der "SZ". © imago images / Westend61
Von Burkhard Müller-Ullrich · 04.03.2021
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Kindern und Jugendlichen geht es in der Coronakrise inzwischen sehr schlecht, berichtet die "SZ". Sie befänden sich im "Warteraum des Lebens". Dabei seien Wissenslücken nicht so schlimm wie verlorene Lebenszeit ohne Freunde und neue Erfahrungen.
"Egal welche Studie man sich ansieht, den Kindern und Jugendlichen geht es mittlerweile wirklich schlecht", schreibt Alex Rühle im Feuilleton-Aufmacher der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. In der WELT steht ein Artikel der ehemaligen Bundesfamilienministerin Kristina Schröder, die genau dieselben Zustände beklagt:

Mehr Kinder und Jugendliche in der Psychiatrie

"Systematische Studien fehlen noch, aber aus Berlin und Tübingen hören wir, dass sich die Einweisungen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie in den letzten Monaten fast verdoppelt haben." Wer selber Kinder hat, braucht auch keine Studien, um das von der Pandemiepolitik verursachte Elend im Nahbereich zu erkennen. Rühle formuliert es so:
"Der Alltag eines Jugendlichen muss sich seit Monaten so anfühlen, als sitze man im Warteraum des Lebens, ohne zu wissen, wann man endlich drankommt. Außerdem hockt man in diesem Warteraum nicht mit guten Freunden, sondern nur mit den eigenen Eltern, die ja eher weniger für das funkelnde Lametta im Alltag zuständig sind, sondern einem täglich das Kleingedruckte aus dem Verhaltenskatalog vorbeten."
Sowohl Rühle als auch Schröder weisen darauf hin, dass Zeit für junge Menschen einen anderen Stellenwert, eine andere Konsistenz hat als für die auf dem Hochplateau ihrer Karrieren dahineilende mittlere Generation. Denn es gibt so etwas wie Zeitfenster im Leben.
Ein verlorenes Schuljahr ist nicht schlimm wegen der entstehenden Stofflücken. Das wirklich Schlimme besteht darin, dass Klassenfahrten, Reisen, Konzerte, Partys und Momente der Entwicklung ausfallen, die sich nicht einfach aufschieben und nachholen lassen. Es sind verlorene Erfahrungen. "War je ein Jugendpsychiater oder Kinderarzt mit am Tisch, als es um die Coronamaßnahmen ging?" fragt Rühle in der SZ.

Bürgerbeteiligung bei Bauprojekten

Im Zusammenhang mit den Coronamaßnahmen hört man so einiges von Demokratie, was uns zu einer Demokratiebetrachtung in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG führt. Und zwar geht es um Bürgerbeteiligung bei der Planung von Bauprojekten. Matthias Alexander zählt einige exemplarische Fälle aus jüngster Zeit in Hamburg, Frankfurt, Dresden und Stuttgart auf, die alle zeigen, "dass die Partizipation in der Krise ist. In der gängigen Form, in der die Teilnahme an einem Bürgerforum theoretisch allen offensteht, leidet die Bürgerbeteiligung regelmäßig unter ihrer mangelnden Repräsentativität."
Um dem abzuhelfen, gibt es zwei gegensätzliche Vorgehensweisen: die eine heißt "Bürgergutachten". Dazu wird ein Laienrat aus zufällig ausgewählten Bürgern geschaffen, die sich mit einer bestimmten Sachfrage beschäftigen. Die andere Möglichkeit ist eine möglichst massenhafte Beteiligung via Onlineplattform. Offen bleibt für den Autor dabei die Frage, "ob die Weisheit der Menge in Gestaltungsfragen tatsächlich weiterführt".
Ein drastisches Beispiel dafür findet sich in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG, wo der Historiker Hubertus Knabe über den Versuch berichtet, in Moskau eine Statue des Gründers der sowjetischen Geheimpolizei Feliks Dzierzynski wiederaufzurichten. Der Mann hat zwischen seiner Beauftragung durch Lenin im Jahr 1917 und seinem seltsam überraschenden Tod 1926 Hunderttausende Menschen, manche Schätzungen gehen bis zu einer Million, umbringen lassen.

Online-Abstimmung als Ablenkungsmanöver?

Das Standbild dieses Massenmörders wurde zwar 1991 aus dem Stadtbild Moskaus entfernt, aber – und jetzt kommt die Bürgerbeteiligung ins Spiel – es gab von rechtsextremen Kräften eine Kampagne, Dzierzynski wieder auf den Sockel zu hieven. Dazu wurde, wie Knabe erklärt, eine Onlineabstimmung organisiert:
"Allerdings konnte man nicht dafür oder dagegen stimmen, sondern musste sich zwischen dem Denkmal Dzierzynskis und dem des russischen Großfürsten Alexander Newski entscheiden. Bereits nach einem Tag hatten mehr als 300.000 Menschen an der Abstimmung teilgenommen. 55 Prozent sprachen sich für Newski aus und 45 Prozent für Dzierzynski."
Doch obwohl die Befragung bis zum 5. März laufen sollte, wurde sie plötzlich abgebrochen. Über die Gründe kann Knabe nur spekulieren: Scheuten die Stadtoberen den drohenden Konflikt mit liberalen Kräften? War das Ganze nur ein Manöver, um von der Nawalny-Affäre abzulenken? Russland kann bekanntlich sehr rätselhaft sein.
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