Aus den Feuilletons

Heul doch, Autorin!

Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 2002 in seiner ZDF-Sendung "Solo"
Der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 2002 © dpa / picture alliance / Erwin Elsner
Von Tobias Wenzel · 03.07.2015
Noch steht nicht fest, wer das Rennen in Klagenfurt macht. "Die Welt" verkürzt die Wartezeit mit den historischen Highlights des Bachmann-Wettbewerbs, zum Beispiel Marcel Reich-Ranicki. Der Sittenwächter Facebook und der Patient Griechenland sind weitere Themen der Feuilletons.
"Sich vor laufenden Kameras mit einer Rasierklinge die Stirn aufzuritzen und passend dazu ein weißes Hemd zu tragen, auf welches das Blut effektvoll abtropfen konnte – das hatte Chuzpe", heißt es in der WELT über die Lesung von Rainald Goetz 1983 beim Bachmann-Wettbewerb. In diesen Tagen lesen zum 39. Mal Autoren in Klagenfurt, um den Hauptpreis zu gewinnen. Wem das nicht gelingt, der kann auch anders berühmt werden, rät mehr oder weniger direkt und augenzwinkernd die WELT und erinnert an die kuriosesten Wettlese-Beiträge und die entsprechenden Reaktionen der Jury. "Wen interessiert schon, was die Frau denkt, was sie fühlt, während sie menstruiert?", habe Marcel Reich-Ranicki 1977 mit Blick auf den Text von Karin Struck gefragt. Die Reaktion der Autorin: "Struck lief heulend aus dem Studio."
Das war übrigens dieselbe Frau, die dann sechs Jahre später eine deutsche Talkshow früher verließ, noch mit dem Mikrofon verkabelt war und dann beim Entfernen der Technik wütend ihr Kleid lüftete.
Fotos davon dürfen vermutlich nicht bei Facebook gepostet werden. Denn Nacktheit ist bei den Machern der Plattform verpönt. "Facebook schwingt sich zum Sittenwächter auf, die Zensur entspringt einer Geisteshaltung, wie sie in erzkonservativen Gesellschaften vorherrscht", kritisiert Adrian Lobe in der FRANKFURTER ALLGEMEMEINEN ZEITUNG. Lobe berichtet unter anderem über die Seite "Death to Israel", die Gewalt verherrliche und Volksverhetzung betreibe. Der Politikwissenschaftler Steven Mazie habe Facebook um die Löschung der Seite gebeten, letztlich vergeblich. Dafür wurde Mazies eigener Account bei Facebook einen Tag gesperrt, weil er ein Foto mit entblößtem Hinterteil veröffentlicht hatte. Mazies Kommentar: "Facebook erlaubt genozidale Todesdrohungen auf seinem elektronischen Netzwerk, während es nackte Hintern verbannt." Laut FAZ-Autor Lobe biedere sich Facebook-Chef Zuckerberg der chinesischen Staatsführung an, weil ihn der chinesische Markt interessiere. So habe Facebook den in Berlin lebenden chinesischen Schriftsteller und Dissidenten Liao Yiwu zensiert und dafür Beifall von der chinesischen Führung bekommen. Adrian Lobes Fazit: "Es ist eine böse Ironie der Geschichte, dass das soziale Netzwerk, das als Katalysator der Demokratisierung gefeiert wurde, zum Vehikel repressiver Tendenzen mutiert, die Facebook selbst befeuert."
Demokratisierung – und da wären wir auch schon bei Griechenland. Jedenfalls sprachlich. "Das Land und seine Führer wurden behandelt wie die seelisch Kranken im 19. Jahrhundert: Mit kaltem Wasser und Schocks sollten sie wieder zur Vernunft kommen", schreibt Nils Minkmar im neuen SPIEGEL. "Manchen soll es geholfen haben. Andere starben daran." Und Wassilis Aswestopoulos scheint da unfreiwillig anzuknüpfen, wenn er in der FAZ über die Situation an den Geldautomaten Griechenlands schreibt: "Es gibt Rentner, die vor den Automaten anstanden und in der sommerlichen Hitze Herzinfarkte erlitten haben." Aswestopoulos beschreibt, wie der Zusammenhalt in Griechenland schwindet. Eine Rentnerin habe vor dem Finanzministerium in Athen für den Austritt aus dem Euro und der EU argumentiert. In den Worten des FAZ-Autors: "Wie aus dem Nichts eilt ein junger Mann herbei: ‚Du alte Hexe, hau ab! Deine wirren Reden gefährden meine Zukunft', herrscht er die Frau mit schneidender Stimme an. In Windeseile aber sammeln sich weitere Rentner um sie und drohen, den jungen Mann zu lynchen."
Verwirrt vom Frieden zwischen einem Politiker und vielen Architekten zeigt sich Gerhard Matzig in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. Denn Bundespräsident Joachim Gauck hat namhafte Architekten ins Schloss Bellevue eingeladen. Bisher sei das Verhältnis zwischen Politikern und Architekten meist gespannt gewesen, schreibt Matzig weiter. Schon Flaubert habe darauf mit folgendem Satz ironisch angespielt: "Architekten, alles Schwachköpfe, vergessen immer die Treppe."
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