Aus den Feuilletons

Helmut Kohl hat sich geirrt

04:17 Minuten
Altkanzler Helmut Kohl am 20.11.1999 bei einer Pressekonferenz in der CDU-Zentrale.
Der große Europäer Helmut Kohl habe sich geirrt, schreibt die "Welt". © dpa
Von Adelheid Wedel |
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Um Europa steht es nicht gut in Zeiten des Brexit - da sind sich die Kulturseiten der Zeitungen einig. Wenn es allerdings um Rezepte zur Heilung des Kontinents geht, ist Schluss mit der Einigkeit. Aber den Roman von Anke Stelling finden alle gut.
"Europa braucht eine zweite Renaissance" – ein Satz wie ein Bollwerk. Eine zu überprüfende Forderung oder die Anzeige eines Verlustes? Der Satz steht in der Tageszeitung Die Welt, aufgeschrieben vom Leiter des Berliner Büros des Zukunftsinstituts Daniel Dettling. Er mutet den Lesern harte Fakten zu.

Frei, aber machtlos

Zum Beispiel: "Helmut Kohl, der große Europäer, hat sich geirrt. Die europäische Integration ist nicht mehr 'irreversibel'. Heute ist Desintegration für viele Mitgliedsländer das erklärte Ziel." Natürlich sucht Dettling nach Ursachen dafür und gibt zu bedenken: "Der Widerspruch der europäischen Demokratie ist, dass die Bürger zwar freier sind, sich aber machtloser fühlen gegenüber globalen Entwicklungen wie Migration, Klimawandel und Digitalisierung."
Warum stärkt diese Zukunftsangst die Populisten? Dettling meint: "Sie versprechen ihren Wählern Identität und Intimität, Gefühl und Zugehörigkeit und ein Zurück in die vermeintlich ‚gute alte Zeit‘." Er hält dagegen: "Die Bürger wollen nicht 'kein Europa', sondern ein verändertes. Ein Europa, das ihnen die Kontrolle über ihr Leben zurückgibt." Er führt aus, wie das zu erreichen wäre und gibt die Empfehlung: "Statt Angst vor der eigenen Mündigkeit zu haben, sollte Europa den Aufbruch in eine neue Aufklärung unternehmen – selbstbewusst und souverän."

Souveränität ist Mangelware

Mit Blick auf Großbritannien scheint Souveränität in Europa oder für Europa derzeit Mangelware zu sein. In der Tageszeitung taz fragt Adam Ganz, Drehbuchautor und Dozent in London: "Wie konnte es zum Brexit kommen?" Er versteht es als "Reaktion auf das Ausbleiben von Reformen des politischen Systems, auf Demokratiedefizite und darauf, dass nationale Mythen nicht hinterfragt werden."
In der Welt fordert der englische Historiker Sir Ian Kershaw im Gespräch mit Mara Delius: "Die EU muss ihre Strukturen überdenken". "Wenige kennen die wechselvollen historischen Querverbindungen zwischen Großbritannien und Europa so gut wie er", schreibt die Autorin.
Gerade hat er seine große Geschichte des 20. Jahrhunderts in Europa vollendet und sich mit "Achterbahn" den Jahren 1950 bis zur Gegenwart gewidmet. Eine seiner Thesen für die Gründe der aktuellen Probleme Europas sieht Kershaw darin, "dass man sich zu früh vom Modell Nationalstaat verabschiedet hat."
Der Historiker erinnert daran: Die Idee der Gründungsväter der EU war, Europa würde eine eigene Entität werden, die Nation würde verschwinden. "Das ist aber nicht passiert", resümiert er und erklärt: "Nach 1990 wurde der Nationalstaat erst richtig wichtig – in Polen und Ungarn zum Beispiel wurde er zum Emblem der Opposition gegen den Kommunismus, in Osteuropa entwickelte er eine ganz eigene Strahlkraft." Und, so führt Kershaw weiter aus, "das Thema Identität wird bleiben, durch die Brexit-Debatte hat es gewissermaßen ein neues Leben bekommen."

Der Riss im schönen Estland-Bild

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung betrachtet Europa aus einem anderen Blickwinkel. Jüri Reinvere stellt fest: "Estland galt lange als europafreundlich, liberal und technologieaffin. Nun ist dort eine rechtspopulistische Partei, die mit Holocaust-Leugnern sympathisiert und Homosexualität verteufelt, zu Koalitionsgesprächen eingeladen. Wie konnte es so weit kommen? fragt er und fährt fort, "so bekommt das schöne Bild, das Estlands Regierungen in den vergangenen zwanzig Jahren für den Westen zu malen versucht haben", nach den Parlamentswahlen Anfang März "einen hässlichen Riss."
Natürlich spielt die Leipziger Buchmesse in den Wochenend-Feuilletons die ihr zustehende wichtige Rolle und wird vielfältig thematisiert. Dabei findet die Wahl von Anke Stellings Roman für den diesjährigen Buchpreis ungeteilte Zustimmung. Der Tagesspiegel hebt hervor: Er "ist eine Lektüre, die wehtut, und gerade deshalb ein großer Gegenwartsroman."
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