Aus den Feuilletons

Für Raimund Hoghe waren Körper wie Landschaften

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Der Choreograf Raimund Hoghe.
Der Choreograf Raimund Hoghe war einer der wichtigsten Protagonisten des zeitgenössischen Tanzes, er arbeitete unter anderem mit Pina Bausch zusammen. © Bertrand Langlois / AFP
Von Klaus Pokatzky · 15.05.2021
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Raimund Hoghe war Choreograf, Autor und Journalist. Am Freitag ist er im Alter von 72 Jahren gestorben. Im Grunde habe er immer Porträts von Menschen entworfen, zuerst mit Worten, dann mittels des Körpers, lesen wir im "Tagesspiegel".
"Mein Kind singt heut Raketenlieder", lasen wir in der Tageszeitung TAZ. "Er steht mir im Wohnzimmer gegenüber, einen Ball aus Schaumstoff in den kleinen patschigen Händen, und singt" – wie Katharina Höftmann Ciobotaru beschrieb, wie sie in diesen Tagen mit ihrer Familie in Tel Aviv lebt. "Raketenalarm brauchen wir nicht, wir wollen nur Raketen aus dem All. Die Bösen dürfen nicht zu uns. Nur Raketen aus dem All." Das singt ein vierjähriger Junge und eindringlicher lässt sich kaum schildern, was in diesem Moment in Israel geschieht. Ist das schon Krieg?
"Es sieht leider so aus, als ob wir uns auf einen Krieg zubewegen, obwohl ich immer noch hoffe, dass er vermieden werden kann", meinte David Grossman. "Im Moment herrscht die Eskalation der Gewalt", sagte der Schriftsteller, der am Rande von Jerusalem lebt, der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG im Interview:
"Das Beunruhigendste ist seit Längerem, was zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels geschieht. Es gibt viele Orte, an denen jüdische und arabische Israelis aneinandergeraten. Man bräuchte sehr viel Weisheit und sehr viel Reife, um dieses delikate Verhältnis zwischen Juden und Arabern innerhalb Israels in der Balance zu halten."

Die Hamas schadet den Palästinensern

Aber wie realistisch sind solche zarten Hoffnungen? - "In einem normalen Land würden wir verstehen, dass sich etwas ändern muss", steht in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG, "und dass eine Regierung, an der eine arabische Partei beteiligt ist, ein echter Versuch sein könnte, das Problem zusammen mit den israelischen Arabern zu lösen – und für sie." Das meint der Literat Etgar Keret aus Tel Aviv, doch: "Weder sind wir ein normales Land noch eines, das bereit ist, sich seine Fehler einzugestehen."
Das eine sind die schrecklichen Bilder, die auch wir mitbekommen können, wenn wir denn hinsehen. "Das andere", hieß es in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, "sind diejenigen Muslime, die hierzulande vor Synagogen ziehen, als seien es Eigentumswohnungen von Benjamin Netanjahu, um antisemitische Sprüche zu skandieren", wie Jürgen Kaube schrieb.
"Dass die Raketen der Hamas gerade dabei sind, Netanjahu neuerlich zum Ministerpräsidenten zu machen, dass die Hamas kaum so töricht ist, das nicht in Kauf genommen zu haben, dass die Hamas den Palästinensern schadet – all das wollen die Demonstranten nicht sehen." Und die Antisemiten bei uns können frohlocken wie lange nicht mehr."Irgendwann, das hoffe ich, wird der Kleine wieder seine gewohnten Lieder von Elefanten und Traktoren singen", schrieb Katharina Höftmann Ciobotaru über ihren Vierjährigen, "irgendwann, wenn der Krieg vorbei ist."
Und David Grossman gibt das Schreiben auch in diesen Tagen nicht auf. "Ich versuche immer, Geschichten zu schreiben, die relevant, die unvermeidlich sind", sagte er. "Ich denke immer, dass ich Glück habe, zu den Leuten zu gehören, denen eine Kunst, bei mir ist es die Literatur, die Möglichkeit gibt, zarte, feine, empfindliche Dinge zu tun in einer Welt, die krank, indifferent, gewalttätig wird."

Ausnahmeerscheinung in der deutschen Tanzszene

Zarte und empfindliche Dinge gegen eine kranke und gewalttätige Welt hat auch ein anderer getan, von dem wir nun Abschied nehmen müssen. "Er war eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Tanzszene", lesen wir im TAGESSPIEGEL vom Sonntag. "Auf zärtliche und melancholische Weise nahm er den Menschen und seine Geschichte mit ihren Brüchen in den Blick", würdigt Sandra Luzina den Choreografen und Tänzer, Filmemacher und Autor Raimund Hoghe, der am Freitag im Alter von 72 Jahren verstorben ist.
"Journalist und Choreograf – das waren für Hoghe keine völlig verschiedenen Jobs. Er habe im Grunde immer Porträts von Menschen entworfen, zuerst mit Worten, dann mittels des Körpers." Oder, wie der an einer Rückgratverkrümmung leidende, sehr kleinwüchsige Raimund Hoghe es einst selber formuliert hat: "Für mich sind Körper wie Landschaften, und so, wie es verschiedene Landschaften gibt, gibt es auch verschiedene Körper – und alle haben ihre Berechtigung."
Und bei seinen Porträts, die Raimund Hoghe einst in der Wochenzeitung DIE ZEIT geschrieben hat, konnte der Kulturpressebeschauer jedes Wort verstehen.

Sprache ist das, woran alle mitsprechen und mitschreiben

"Der Widerspruch ist immer noch produktiv", hieß es in einer Buchbesprechung des Magazins DER SPIEGEL. "Einerseits wird das Römische Reich in deutschen Landen von jeher adoriert." Das Andererseits ersparen wir uns jetzt. Wir adorieren lieber sauberes und auf Anhieb verständliches Deutsch. Ach ja, "adorieren" ist nicht nur für den Duden ein "schwaches Verb", was übrigens "verehren, anbeten" bedeutet.
"Wer einen Sachverhalt", springt uns die FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG zur Seite, "ein Gefühl nicht anschaulich beschreibt, der kann mal zu faul, mal zu dumm, mal zu böse dafür sein", schreibt Claudius Seidl. "Es wird aber immer damit enden, dass, was nicht beschrieben werden kann, erst recht nicht verstanden und schon deshalb nicht verändert wird." Danke Kollege!
"Was ist Sprache?", fragte da die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG. "Doch das, woran alle mitsprechen und mitschreiben", meinte Stefan Stirnemann. "Ihre lebendige Ordnung entsteht, indem jeder für sich das Ziel verfolgt, verstanden zu werden."
Aber so klug wie einst Raimund Hoghe ist eben nicht jeder Schreiber.
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