Aus den Feuilletons

Europas Mitverantwortung an der Flüchtlingstragödie

Ein überfülltes Boot mit Flüchtlingen aus Afrika schwimmt vor der italienischen Insel Lampedusa.
Flüchtlinge aus Afrika vor der italienischen Insel Lampedusa © picture alliance / dpa / Ettore Ferrari
Von Arno Orzessek · 21.04.2015
Navid Kermani schreibt in der "FAZ" über die Mitverantwortung Europas an der oft tödlichen Flucht von Millionen Menschen über das Mittelmeer. Über Jahrzehnte hätten europäische Regierungen Tyrannen massiv unterstützt. Und das sei keineswegs Geschichte. Und auch heute habe der Westen ein Bündnis mit dem Hauptsponsor des militanten Islamismus.
Ob Sie solo sind oder verpaart, liebe Hörer männlichen Geschlechts…
So oder so dürfen Sie sich von David Steinitz' Worten in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG angesprochen fühlen:
"Stellen Sie sich vor, ein Internet-Unternehmen wie Google könnte Ihre Traumfrau bauen! Das Design müssten Sie dem Konzern gar nicht umständlich erklären, weil er die optischen Vorlieben längst aus Ihren Porno-Suchanfragen zusammengerechnet hat. Doch keine Angst, wir sprechen hier nicht von einer ordinären Gummipuppe für lüsterne Stubenhocker, sondern von einer High-End-Traumfraulösung für Romantiker und Feuilleton-Leser."
Bevor nun jemand zu hoffen beginnt, das Internet der Dinge werde alsbald die Produktion gefälliger Frauen aus Fleisch und Blut per 3-D-Drucker ermöglichen, sei gesagt:
SZ-Autor Steinitz stellt nur Alex Garlands Erotik-Film "Ex Machina" vor, in dem eine Firma namens Blue Book die patente Traumfraulösung Ava realisiert…
Die sich gleichwohl als sperrig erweist.
"Ava kann flirten, wie die gefährlichsten Lolitas in französischen Filmen. Was in diesem klaustrophobischen Kammerspiel schließlich beide Männer in den Irrsinn treibt. Den Erfinder [von Ava], weil er von seiner eigenen Kreation so begeistert ist, dass er sich bereitwillig von ihr blenden lässt. Und den schüchternen Probanden, weil er tatsächlich zu glauben beginnt, hier seine Traumfrau gefunden zu haben – die aber nur das künstliche Destillat seines [eigenen] digitalen Lebens ist."
"Bündnis mit dem Hauptsponsor des militanten Islamismus"
Das war's für heute mit den frivolen Fiktionen. Wir treten in die Realität ein…
… Und mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG an das Massengrab Mittelmeer heran, in dem die Flüchtlinge ungezählt versinken.
Navid Kermani denkt über die Fluchtursachen nach und konzediert: "Europa ist nicht für alles Elend in der Welt verantwortlich…."
Aber das ist eine rhetorische Finte. Denn der FAZ-Autor fährt sarkastisch fort:
"Und ich führe hier nicht die Subventionen der EU an, die die Baumwoll- oder die Zuckerindustrie in Afrika zerstören, die Zölle, mit denen wir afrikanische Erzeugnisse vom Markt ausschließen, oder den Klimawandel […]. Die Hauptursache für den aktuellen Anstieg der Flüchtlingszahlen ist der Zerfall der staatlichen Ordnung in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Europa hat diesen Verfall nicht etwa aufgehalten, sondern selbst befördert, in dem es über Jahrzehnte […] skrupellose Tyrannen massiv unterstützte."
Es ließe sich einwenden, ein Tyrann wie Saddam habe im Irak für mehr Ordnung gesorgt, als seiner Entmachtung durch den Westen folgte…
Ein Argument, dass Kermani sogar selbst andeutet, aber nicht verfolgt. Stattdessen betont er:
"Am verheerendsten […], moralisch wie strategisch, ist das Bündnis, dass der Westen und damit auch Europa mit dem Hauptsponsor des militanten Islamismus eingegangen ist, mit Saudi-Arabien. Immerhin verteilt der 'Islamische Staat' in allen Städten, die er erobert, […] Schriften des saudischen Vordenkers Abdelwahhab. Nicht nur sie, aber gerade auch die Hunderttausende arabischer Christen, die aus dem Irak und Syrien fliehen mussten, sind unmittelbare Opfer dieser Ideologie des Hasses, die von Saudi-Arabien aus in die gesamte islamische Welt getragen […] wird."
Genozid als deutsche Erfindung
Wir bleiben im Finsteren.
"Ressentiments, Selbstgerechtigkeit, Ignoranz" – all das wirft die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG nach der Lektüre der "Schwarzen Hefte" von 1942 bis 1948 Martin Heidegger vor.
"Der nationalsozialistische Zivilisationsbruch in Deutschland, suggeriert uns der Denker, sei nur ein letztlich unpassender Augenblick für den neuen Anfang des abendländischen Geschicks gewesen",
unterstreicht NZZ-Autor Günter Figal…
Während die Tageszeitung DIE WELT erklärt, dass das international gebräuchliche Wort für Völkermord – Genozid – "eine deutsche Erfindung" sei. Was dem NS-Chefideologen Alfred Rosenberg erst ermöglichte, bei den Nürnberger Prozessen zu behaupten: "Ich weiß mein Gewissen völlig frei von […] einer Beihilfe zum Völkermord."
Sie bemerken wohl, liebe Hörer, dass Sie mit ernstester Lektüre rechnen müssen, sofern Sie zu den Feuilletons greifen.
Wir aber verabschieden uns für heute mit dem melancholischen Konjunktiv, der in der SZ Überschrift wurde: "Das Leben könnte so schön sein."
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