Aus den Feuilletons

Epidemien und ihre historische Signatur

04:10 Minuten
Gravurbild des Bahnhofs im italienischen Ventimiglia 1884. Reisende stehen neben einem Zug.
Auch das Reisen per Bahn verstärkte die Cholerapandemie im 19. Jahrhundert, heißt es in der "Süddeutschen Zeitung". © imago-images / Kharbine-Tapabor
Von Hans von Trotha · 15.02.2021
Audio herunterladen
Die "SZ" stellt bei einer Rückschau in die Cholerazeit des 19. Jahrhunderts eine Parallele zu heute fest: Auch damals wusste man, die Pandemie folge der Zirkulation der Waren und Menschen und zeige damit die Kehrseite der Industrialisierung.
Ein Jahr Pandemie im Feuilleton, das bedeutet eine nicht mehr eindämmbare Sehnsucht nach Reisen. Da haben es die im Feuilleton immerhin gut, sie können virtuell verreisen, wir dann mit ihnen. Für die FAZ fliegt Paul Ingendaay über die spanische Mancha:
"Ich schwebe über die weite Landschaft hinweg", schreibt er. "Ich schwebe in mittlerer Höhe, spüre die heiße Sommerluft, die mich angenehm fächelt, weil sie pulvertrocken ist. Wer ich bin, ist jetzt egal; allein das Wo zählt. Und das Wohin. Ich fliege. Der Name der Landschaft unter mir ist uralt: La Mancha."

Pandemien als Kehrseiten des Fortschritts

Für die SÜDDEUTSCHE schickt Lothar Müller den Übeltäter selbst auf Reisen: nämlich das Virus, allerdings nicht "unseres": "Epidemien", schreibt Müller, "haben eine historische Signatur. Die Cholera war die Seuche des 19. Jahrhunderts. Sie wurde schon von den Zeitgenossen als Kehrseite der Industrialisierung reflektiert. Man wusste, dass sie zur Pandemie wurde, weil sie der Zirkulation der Waren und der Menschen folgte, Eisenbahnen, die großen Verkehrsrouten zu Lande, Dampfschiffe auf den Meeren und Flüssen benutzte."
Denn ein Jahr Pandemie im Feuilleton, das bedeutet auch ein Jahr der fortschreitenden Historisierung. Da kommen wir gerade in den Neunzigerjahren an - nicht denen des 20., nein des 19. Jahrhunderts. Bei Paul Ingendaay lesen wir:
"Ende des 19. Jahrhunderts nahm die Verwandlungsmacht der Fantasie im spanischen Geistesleben geradezu verrückte Züge an. Denn die ernsthaftesten Köpfe ihrer Zeit, die Autoren der sogenannten Generation von 1898, entdeckten 'Don Quijote' neu und erhoben meine Flugzone, die ausgestorbene Weite der Mancha, zum Kern des wahren Spaniens. Einfach so. Da hoben diese Intellektuellen ab in die dünne Luft des Idealismus und der nationalen Verklärung", wobei Ingendaay meint, "dass sie damit in gewisser Weise ihrer literarischen Lieblingsfigur nacheiferten, also auch ein bisschen bekloppt wurden".

Das Selbstexperiment von Max von Pettenkofer

Lothar Müllers Blick auf die Reisetätigkeit des Choleravirus beginnt im Oktober 1892. Da "schluckte der Hygieniker Max von Pettenkofer in einem Selbstversuch, der rasch Berühmtheit erlangte, frische Cholerakulturen. Mit dem Selbstversuch wollte er ein zentrales Theorem seiner Lehre untermauern: dass die Cholerabazillen allein nicht in der Lage seien, die Krankheit auszulösen."
Müller schreibt über das Europa des späten 19. Jahrhunderts: "Man könnte meinen, dass die Wissenschaft als neutrale Instanz den Hygiene- und Präventionsmaßnahmen die Richtung vorgab. Aber eben dies war nicht der Fall." Und:
"Die Grundkonstellation, dass die Erforschung des zunächst unbekannten Seuchenerregers durch die Wissenschaft und die Etablierung von Präventionsmaßnahmen der Regierungen zeitlich zusammenfallen, teilen wir mit dem 19. Jahrhundert. Wir erleben, wie schnell sich Präventionsoptionen, politische Debatten, ökonomische Interessen, Routinen des individuellen Risikomanagements an Minimaldifferenzen in den Äußerungen prominenter Virologen, Epidemiologen oder Impfspezialisten anlagern können."

Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet

Dazu passt ein Gespräch, das Jörg Phil Friedrich in der WELT mit dem Soziologen Alexander Bogner über die Frage führt, "wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet". Bogner betont, "dass die Wissenschaft oft keine eindeutigen Antworten hat", und er erläutert:
"Im Zuge der Binnendifferenzierung der Wissenschaft und einer hoch spezialisierten Arbeitsteilung bohrt jeder Forscher weit in die Tiefe, aber eben nur auf der Größe einer Briefmarke." Man müsse, so Bogner, am besten immer "Experten mit konträren Positionen einladen". - "Die Idee wäre dann, diese Fachleute miteinander ins Gespräch zu bringen, damit sich die Laien ein umfassendes Bild von der Problematik machen können."
Was den Ausgang solcher Gespräche angeht, macht der Blick ins 19. Jahrhundert nicht viel Hoffnung mit Lothar Müllers Bilanz: "Die Geschichte der Cholera zeigt, warum Seuchenbekämpfung unvermeidlich zu Streit führt" und Paul Ingendaays Vermutung, dass die "ernsthaftesten Köpfe" der spanischen Generation 1898 "ein bisschen bekloppt wurden".
Vielleicht schauen wir uns nächstes Mal doch lieber wieder in der Gegenwart um.
Mehr zum Thema