Aus den Feuilletons

Die Welt zu Gast bei Freunden?

Bastian Schweinsteiger feiert mit Fans vor dem Brandenburger Tor in Berlin den Gewinn der Fußball-WM.
Weltmeister auf der Berliner Fanmeile 2014: Deutschland scheint nicht nur wegen seiner Fußballer immer beliebter zu werden. © dpa / picture alliance / Alex Grimm
Von Arno Orzessek · 05.09.2015
Zur Flüchtlingsdebatte haben die Feuilletons in dieser Woche alle möglichen Meinungen im Angebot. Die Schwarz-Weiß-Maler kritisieren Rassismus und Herzenskälte, die Optimisten wähnen sich in einem Traumland, das alle toll finden.
Kennen Sie noch die Märchen der Gebrüder Grimm, liebe Hörer? Dann ahnen Sie bestimmt, warum der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss seine Überlegungen zur Migration in der Tageszeitung DIE WELT unter das Motto stellte: "Etwas Besseres als den Tod". Hier die entscheidende Passage:
"Jeder Migration geht Leiden oder zumindest Unzufriedenheit voraus: Krieg, Naturkatastrophen, Armut. Und jede Flucht verursacht selbst Leiden. Bei denen, die auswandern, wie bei den Eingesessenen. Aber wenn Bleiben Tod und Untergang bedeuten und Hoffnung auf Rettung besteht, wird Leiden nebensächlich. Wie meint doch der Esel in den ‚Bremer Stadtmusikanten' der Gebrüder Grimm zur verzagten Katze? ‚Etwas Besseres als den Tod findest du überall.'"
Es gehört derweil zu den eisigen Erkenntnissen auch der vergangenen Woche, dass WELT-Autor Lukas Bärfuss genauso unrecht hat wie der Esel unter den "Bremer Stadtmusikanten". Der dreijährige syrische Flüchtling Aylan Kurdi fand – als einer unter Vielen – eben nichts Besseres als den Tod. Und die Bilder seines niedlichen Körpers, angeschwemmt am türkischen Strand, umschwappt von den Wellen, die den Leichnam herantrugen, gingen um die Welt. In der TAGESZEITUNG konstatierte Dominic Johnson:
"Es ist die Perspektive des Fotografen, die diese Reihe von Bildern so unter die Haut gehen lässt. Praktisch jeder Europäer hat schon einmal genau so irgendwo am Strand gestanden und genau so auf die Wellen geguckt. Jedem, das ist die Botschaft des Bildes, könnte plötzlich ein totes Kind vor die Füße gespült werden."
Unterdessen kommen auch immer mehr Flüchtlinge lebendig an ihr Ziel – zumindest im geografischen Sinne... Und ob sie dann, etwa in Deutschland, willkommen sind oder nicht, darüber gehen die Meinungen vollständig auseinander – auch unter den Autoren ein und derselben Zeitung.
"In Deutschland ist die Bereitschaft der Zivilgesellschaft, Flüchtlingen zu helfen, sehr groß", betonte der Sozialwissenschaftler Ludger Pries in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG... in der Milosz Matuschek, polnischer Spätaussiedler und Jurist, wiederum vehement die gegenteilige Ansicht vertrat:
"Die Welt zu Gast bei Freunden? Das war 2006, es war WM. Und es war nur ein Spiel. Jetzt ist es ernst. Bei jedem einsamen Kätzchen auf dem Baum zerfließen uns die Herzen vor Mitleid in den sozialen Netzwerken. Die Flüchtlingskatastrophe vor unserer Tür lässt uns vergleichsweise kalt."
An dieser Stelle müssen wir uns kurz einmischen, um eine Banalität auszusprechen. Natürlich haben beide FAZ-Autoren recht: Es gibt unter den Hiesigen Fremdenhass, und es gibt unter den Hiesigen riesige Solidarität. Nervig ist allerdings, dass viele Publizisten aus texttaktischen Gründen entweder das eine oder das andere unterschlagen...
Wie zum Beispiel der französische Großmoralist Bernhard-Henri Lévy, der in der WELT behauptete:
"Unsere Aufmerksamkeitsgesellschaft, die normalerweise schnell bei der Hand ist, kurzlebige Prominente als Gesichter der Krise des Tages zu produzieren [...], hat an keinem einzigen der Migrantenschicksale wirklich Interesse. Diese Individuen – deren Reise hin zu unserem Kontinent an diejenige der phönizischen Prinzessin Europa erinnert, die vor vielen Jahrtausenden auf dem Rücken des Zeus von Tyros kam – werden komplett abgelehnt."
Wie gesagt: Solche Schwarz-Weiß-Malerei ist Unfug... Aber gängige publizistische Praxis. In der Aufregung dieser Tage mehr denn je.
Und wer hat Schuld am Gesamt-Schlamassel? Die üblichen Verdächtigen... Jedenfalls wenn es nach Armen Avanessian geht. Der Philosoph behauptete in der Wochenzeitung DIE ZEIT:
"Man kann es [...] nicht deutlich genug sagen: Der sich im Umgang mit der Flüchtlingsfrage manifestierende Rassismus speist sich aus derselben Quelle wie der außen- oder innenpolitische Sparfanatismus. Im Moment ihres größten Triumphs ist daran zu erinnern, dass die Gedankenwelt und Politik der protestantischen Zuchtmeister und schwäbischen Sparsadisten der Vergangenheit angehört."
Oha!... Haben wir da gedacht: Wie passt diese wütende anti-teutonische Verunglimpfung zu den Beobachtungen, die Eckhard Fuhr in der WELT anstellte?
"Für Millionen hat der Traum einen Namen: Deutschland. Hunderttausende kommen. Kein Zaun hält sie ab. Wir, die wir in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir in einem Traumland leben. Wenn so viele kommen wollen, können wir nicht alles falsch gemacht haben."
Ob so oder so – unstrittig dürfte sein, was der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG festhielt:
"Die Menschheit ist durch Migration zu dem geworden, was sie heute ist. Das sollte in der gegenwärtigen ‚Flüchtlingsdebatte' nicht vergessen gehen."
Münkler erläuterte, dass ausgerechnet die Aufklärung keinen Blick für die planetarischen Prozesse gehabt habe... Und diese Ignoranz, so Münkler, verfolgt uns bis auf den Tag:
"Fast alle normativen Ordnungsvorstellungen der Aufklärer beruhten auf der Annahme eines Gleichgewichts, und dabei sahen sie dessen Infragestellung durch nachhaltige Migrationsbewegungen nicht vor. Die aktuelle Debatte über Flüchtlinge und Asylbewerber zeigt, in welchem Masse wir auch heute im Bann solcher Gleichgewichtsvorstellungen stehen und wie schwer es uns fällt, dynamische Veränderungen durch Migration zu denken."
Immerhin, die TAGESZEITUNG versuchte sich daran, Migration zu denken, und legte einen "Entwurf für ein liberales Einwanderungsgesetz" vor... Wobei Artikel 2, § 7, Absatz 1 den Neulingen durchaus Sportsgeist abfordert:
"Wer mitwirken will, Deutschland zu einem wirtschaftlichen besonders leistungsfähigen, ökologisch besonders nachhaltigen, sozial besonders gerechten sowie besonders demokratischen und besonders liberalen Land zu machen, erhält nach Eidesleistung [...] den Einwandererstatus."
Eid-Schwänzer aber mögen in Artikel 2, § 9 Absatz 3 ihren Trost finden: "Abschiebungen sind ausgeschlossen."
Nun denn, liebe Hörer. Wir wissen natürlich auch nicht, wie die ganze Sache ausgeht... halten aber das Motto für richtig, das in der WELT Überschrift wurde: "Packen wir's an."
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