Aus den Feuilletons

Die Welt starrt auf das Virus

06:21 Minuten
Ein Gefahrensymbol schwebt vor der Erdkugel, darüber steht Corona-Virus.
Eine Woche voller Corona liegt hinter uns - auch in den Feuilletons. © imago images / blickwinkel
Von Arno Orzessek · 07.03.2020
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Das Corona-Virus hat die Welt immer noch im Griff - und damit die Kulturseiten der Zeitungen: Ob Bildinterpretation, Typenlehre oder Politanalyse, ohne Covid-19 kam kaum ein Artikel in dieser Woche aus. Die "SZ" bemüht sogar Freud zur Viren-Exegese.
Wir wünschen Ihnen weiterhin ungetrübte Lebensfreude. Wollen aber festhalten, dass auf unserem Planeten jeden Tag etwa 150.000 Menschen sterben. Die Todesfälle, die dabei auf das Corona-Virus zurückgehen, haben statistisch noch nicht entfernt den Aufstieg von der Promille- in die Prozent-Zone geschafft.
Trotzdem – und verständlicherweise – starrt alle Welt auf das Virus. Wer nun am vergangenen Montag den Berliner TAGESSPIEGEL aufschlug, dem starrte zwar nicht das Virus selbst, wohl aber aus dunklen Augenhöhlen der Sensenmann entgegen.

Der Infizierte als Aussätziger

Der umso schrecklicher wirkte, als er, rückwärts reitend, auf einem schwarz geflügelten Ungeheuer daher kam. Ja, Sie haben es erraten, liebe Freunde der Malerei! Es war Arnold Böcklins Gemälde "Die Pest", das im TAGESSPIEGEL einen Artikel Peter von Beckers illustrierte – der indessen ein literarisches Szenario in den Fokus rückte.
"Anders als beim Klimawandel geht es beim Coronavirus nicht um das Überleben des Planeten. Aber die Begegnung mit Seuchen berührt die Urängste vor dem Unsichtbaren, Unreinen, Unheimlichen. Macht den Infizierten potenziell auch zum Aussätzigen. In dieser Situation ist Albert Camus’ Roman 'Die Pest' wieder ein Buch der Stunde. Camus zeigt ohne apokalyptischen Grusel und voll nüchterner Rationalität, dass neben der Medizin weniger die gegenseitige Abschottung als vielmehr die gesellschaftliche Solidarität ein Mittel des Widerstands ist. Das klingt hellsichtig, auch für heute."
Ganz in diesem Sinne empfahl übrigens die Wochenzeitung DER FREITAG: "Sogar die (Leipziger) Buchmesse fällt dem Virus zum Opfer! Lesen wir also einen Klassiker: Albert Camus' 'Die Pest'."
Folgen Sie gern dem Tipp des FREITAG, es lohnt sich. Wir jedoch folgen mit der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG dem Schicksal von Hans Makarts Gemälde "Die Pest in Florenz". Das laut Stefan Trinks "selbst abgebrühte Horrorfilm-Gucker schlucken" lässt. Der Grund: "An die sechzig in einander verknotete Leiber winden sich darauf orgiastisch-ekstatisch, aber auch von Krämpfen geschüttelt. Die Skala der Hautfärbungen auf den Bildteilen reicht in Leserichtung von rosig gesund bis zum Zustand der Verwesung, grün-gräulich."

Mussolinis Gastgeschenk

Schon in der Unterzeile ließ die FAZ wissen: "Hitler gefiel das sehr" – und Trinks erläuterte: "Bei Mussolinis Besuch auf dem Obersalzberg muss Hitler in einer Szene, die sich Chaplin für den 'Großen Diktator' nicht absurder hätte einfallen lassen können, (den Gast) so lange bekniet haben, bis der faschistische Diktatorenkollege Hitler die 'Pest in Florenz' als Geschenk nach München schickt. Dort wird das erschütternd lebensecht gemalte Katastrophenszenario triumphal im 'Führerbau' gezeigt."
Von Hitler zurück zu Corona. Die einen reagieren auf das Virus so, die anderen so. Was die Tageszeitung DIE WELT auf die Idee brachte, verschiedene "Corona-Charaktere" vorzustellen. Da wäre zum Beispiel "Der Christ". "Ich bin mit 58 (Jahren) und einer lebenslangen chronischen Bronchitis der Top-Corona-Todeskandidat in der Redaktion", outete sich Matthias Heine und überließ alles Weitere dem obersten Uhrmacher. "Für einen Christen hat der Tod keinen Schrecken. Wenn Gott nun entscheidet, ich sei reich genug beschenkt worden – amen. Es liegt alles in seiner ewig ungewaschenen Hand."
Offenbar von guten Mächten wunderbar geborgen: der WELT-Autor Matthias Heine. Andere brauchen keinen Gott, um Covid-19 die Zunge herauszustrecken – etwa "der Optimist" Tilman Krause. "Sorglos bin ich im Allgemeinen gar nicht mal. Ich trage auch im Sommer leichte Lederhandschuhe, damit ich mich in Bus oder Bahn festhalten kann. Und ich bin auch der Typ, der sich sofort die Pfoten wäscht, wenn ihn irgendjemand dazu gebracht hat, sein Schwitzhändchen zu drücken. Aber vor Corona habe ich keine Angst. Ich habe schließlich schon ganz andere Viren überlebt, nicht zuletzt ein Virus namens HIV."
So der WELT-Autor Krause, der seine Furchtlosigkeit auch lokalpatriotisch herleitete: "Für einen alten West-Berliner bleibt’s dabei: Der Insulaner verliert die Ruhe nich, der Insulaner liebt keen Jetue nich! Für Ortsunkundige: Bange machen gilt nicht."

Corona - gefährlich für Trump?

Bangen sollte aber US-Präsident Donald Trump, wenn man der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG folgt. "Das Coronavirus ist gefährlicher für Trumps Präsidentschaft als für dessen Gesundheit", behauptete Niall Ferguson. Der britische Historiker erwähnte Trumps irre These, Corona sei "ein wenig wie die normale Grippe, für die wir großartige Grippeimpfungen haben" und unterstrich mit Blick auf den US-Wahlkampf: "Ein Ausbruch von Covid-19 in einer oder mehreren amerikanischen Grossstädten würde der US-Wirtschaft einen Schlag vom Format des 11. September versetzen, und Trumps Gunst in der Öffentlichkeit bekäme einen Schlag vom Format des Hurrikans 'Katrina' ab. Die Tatsache, dass der Hauptvorteil eines solchen Szenarios ein lebenslänglicher demokratischer Sozialist wäre, der für eine allgemeine Krankenversicherung eintritt (Bernie Sanders nämlich), muss zu den Dingen gehören, die die Götter irgendwie lustig finden."
In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erinnerte der Soziologe Stefan Lessenich daran, dass in früheren Jahrhunderten Europa seine Krankheiten in der Welt verbreitet hat. Mit der bekannten Folge, dass die meisten Ureinwohner Amerikas grausam starben.

Sprechen über weibliche Lust

Und nun: die Wiederkehr des Verdrängten. "Was gerade zu uns zurückkehrt (so Lessenich), ist das Abbild unserer eigenen Vergangenheit, sind Bestandteile unseres industrialistischen, kolonialen, imperialen Selbst. Dass das von unserem Bewusstsein Abgespaltene als scheinbar Fremdes zu uns zurückkehrt und, als nicht länger Heimliches, das Heimelige unserer Existenz bedroht, ist der Kern dessen, was Freud das 'Unheimliche' nennt. Und womöglich auch das eigentlich Ansteckende am Coronavirus: Vielleicht sind wir ja schon infiziert von der Ahnung, dass die guten alten Zeiten vorbei sind und es uns an den Kragen geht. In der Tat, da kann einem der Atem stocken."
Nun denn. Covid-19 hin oder her – an diesem Sonntag ist Weltfrauentag. Falls es Ihnen an Gesprächsthemen fehlen sollte, folgen Sie doch der Aufforderung des FREITAG: "Weibliche Lust war lange tabu. Sprechen wir darüber!"
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