Die Schweiz und die Suche nach dem Glück

"Cornelius Gurlitt ist tot, Uli Hoeneß muss ins Gefängnis. Die Schweiz hat den Menschen, die mit ihr Geschäfte trieben, kein Glück gebracht.", schreibt die "FAZ". Sie zweifelt daran, dass das Land dem Vermächtnis des Kunstsammlers gewachsen ist.
Frauen und Kühe. Die Frauen unförmig dick, mit rotbraunen konturlosen Kleidern, die Gesichter Punkt, Punkt, Komma, Strich aus der Sprühdose, jede hat eine schwarze Maschinenpistole schräg vor der Brust hängen. Zwei Kühe, eine braun, eine gefleckt. Allesamt an Holzpfähle genagelt, unregelmäßig hintereinander gestaffelt, auf einer winterlichen Wiese, im Hintergrund kahle Bäume.
Frauen und Kühe, das ist das Bild, mit dem die WELT heute ihren Feuilletonaufmacher unter der Überschrift "Worauf sie schießen" illustriert. Es zeigt eine Schießanlage auf einem deutschen Truppenübungsplatz, einer von dreißig in der ganzen Welt, die Herlinde Koelbl für ihr Foto-Projekt "Target" besucht hat.
Das Ergebnis ist im Deutschen Historischen Museum in Berlin zu sehen. Ein tiefer und verstörender Blick "ins Innerste des Militärs" ist der Fotografin gelungen, wenn man dem tief beeindruckten WELT-Rezensenten Eckhard Fuhr glauben darf, der den Glücksfall preist,
"dass 'Targets' parallel zu der Ausstellung über den Ersten Weltkrieg zu sehen ist, die Ende des Monats im Deutschen Historischen Museum eröffnet wird. Besser könnte man die Historie nicht an die Gegenwart anschließen."
"Totalisierbare Gewalt als Möglichkeit"
Der Krieg und die Gegenwart. Auch die BERLINER ZEITUNG macht sich über beides Gedanken, und zwar anlässlich Jörg Leonhards über 1000 Seiten starker Geschichte des Ersten Weltkriegs "Die Büchse der Pandora". "Der eigentliche Sieger", zitiert Michael Hesse den Historiker, "war der Krieg selbst, das Prinzip des Krieges, der totalisierbaren Gewalt als Möglichkeit".
Leonhards Werk sei "meisterhaft", ein "ganz großer Wurf", und das Lob des Rezensenten bezieht sich auch auf den Titel "Die Büchse der Pandora":
"Wie durch die Büchse in der antiken Sage kamen im Jahr 1914 Schrecken in die Welt, die für lange Zeit nicht mehr zu bändigen waren und erst mühsam wieder eingefangen werden mussten."
Ein Teil dieser Mühsal wird auch in der Debatte um das Vermächtnis von Cornelius Gurlitt spürbar, der seine von seinem Vater in der NS-Zeit angehäufte sagenunwobene Kunstsammlung dem Kunstmuseum Bern vermacht hat.
Wirklich so wertvoll?
Ein solches Erbe ausgerechnet in die Schweiz, der einstigen Drehscheibe für Nazi-Raubkunst? Matthias Frehner, der Direktor des Kunstmuseums Bern, hütet sich vor jeder Festlegung, sagt aber unter anderem in der WELT, er habe "schon das Gefühl, dass es sich lohnt, das Geschenk anzunehmen. (...) Die Chance ist natürlich außerordentlich."
Die deutschen Feuilletons suchen unterdessen nach Gründen, die Freude nicht allzu innig werden zu lassen: Zunächst ist es – wie häufig nach dem Tod eines Erbonkels – wohl so, dass die scheinbar unermesslichen Werte gar nicht so wertvoll sind, bemerken schmallippig Hans Leyendecker und Catrin Lorch in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:
"Die problematische Sammlung muss (...) nicht nur aufgearbeitet und von Restauratoren betreut werden, sondern ist auch in moralischer Hinsicht ein schweres Erbe".
Und was sagen die Schweizer selber?
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG schlägt Jürg Altwegg, selbst Schweizer, einen regelrecht gehässigen Ton an:
"Cornelius Gurlitt ist tot, Uli Hoeneß muss ins Gefängnis. Die Schweiz hat den Menschen, die mit ihr Geschäfte trieben, kein Glück gebracht."
Was immer den verstorbenen Sohn des Nazi-Kunsthändlers "zu seinem Vermächtnis bewogen" habe: "Für die Schweiz ist es eine Versuchung, der sie offensichtlich nicht gewachsen ist."
In dem "intakten Selbstbewusstsein" der Schweizer hätten "zwei Weltkriege und die Schoah keine tieferen Spuren hinterlassen (...). Selbstgerechtigkeit ist nach der gescheiterten Vergangenheitsbewältigung das Herzstück der helvetischen Identität. Die ''Masseneinwanderung' aus Europa", so der FAZ-Autor, "hat sie gerade gestoppt". "Seine Bilder nimmt sie gerne – falls es sich lohnt, wenn sie gut genug sind."
Auch den Berner Museumsdirektor Frehner attackiert FAZ-Autor Altwegg frontal und beschuldigt ihn, "als Weißwäscher des Herrn Gurlitt (...) und der eigenen Weste aufzutreten". Und was sagen die Schweizer selber? In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG hat sich Joachim Güntner bei deutschen Museumsdirektoren umgehört und konstatiert zufrieden: "Der Neid hält sich in Grenzen."