Aus den Feuilletons

Die Opfermythen des Ostens

Eine Siedlung aus Plattenbau-Hochhäusern
Plattenbau-Hochhäuser im polnischen Wroclaw (Breslau) © dpa / picture alliance / Arno Burgi
Von Klaus Pokatzky · 06.12.2015
Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk schreibt in der "Welt" über die Gefühlslage der Polen: "Eine unserer elementaren nationalen Figuren ist die des unschuldigen Opfers". Als solches sieht sich auch der lettische Regisseur Alvis Hermanis.
"Ist der lettische Regisseur Alvis Hermanis ein Rassist und verkappter Rechtsradikaler?", fragt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG. Die Frage steht ja im Raume, seitdem Hermanis eine Inszenierung am Hamburger Thalia Theater für den April 2016 abgesagt hatte. Seine schriftliche Begründung: Das Thalia habe sich mit seinem Engagement für Flüchtlinge zu einem "refugee welcome center" entwickelt.
"Ein Flüchtling ist er selbst einmal gewesen, damals, Ende der 80er-Jahre, als er in New York um politisches Asyl bat, weil er nicht zum sowjetischen Militärdienst wollte."
So klärt uns Katrin Bettina Müller in der Tageszeitung TAZ auf:
"Darum erschüttert seine Entscheidung."
Für die Tageszeitung DIE WELT ist Hermanis' Brief "ein Dokument der Paranoia, zu dem sich selbst hartgesottene Pegida-Anhänger nur mit Mühe durchringen dürften", wie Jan Küveler befindet – womit die eingangs zitierte Frage der SÜDDEUTSCHEN ja fast schon beantwortet wäre.
Fast. Denn die SÜDDEUTSCHE hat einige Fragen an den Regisseur gestellt, wobei aus ihrem langen Artikel leider nicht hervorgeht, ob das in einem mündlich geführten Interview war oder per Brief und Postboten oder digital über E-Mail – wobei Letzteres zu vermuten ist.
"Auf die Nachfrage reagiert Hermanis mit wüsten Beschimpfungen", wie Till Briegleb schreibt: der Regisseur erkläre "sich nur zum Opfer einer deutschen medialen 'Propagandamaschine', die gegen ihn vorgehe wie einst die Sowjetmacht gegen unliebsame Meinungen".
Der lettische Regisseur Alvis Hermanis
Der lettische Regisseur Alvis Hermanis© dpa / picture alliance / Barbara Gindel
Auf jeden Fall teilt Alvis Hermanis, wie er der SÜDDEUTSCHEN mitgeteilt hat, "den Enthusiasmus hinsichtlich offener EU-Grenzen und unkontrollierter Einwanderung nicht. Vor allem im Osten Europas verstehen wir diese Euphorie schlecht."

Opfermythen gegen Wohlstandsversprechen

Ja, wie tickt der Osten Europas denn? Der polnische Schriftsteller Andrzej Stasiuk schreibt in der WELT:
"Gegen die Wohlstandsversprechen des Westens setzen wir unsere Opfermythen. Die sowjetische Kolonisation ist vorbei, eine neue, die europäische, hat begonnen. Gewiss, das Land hat sich entwickelt, zivilisiert, es ist schöner geworden. Hochhäuser, Einkaufszentren, Autobahnen und Infrastruktur erinnern an die im Westen. Dennoch haben viele das Gefühl, ihnen sei ihr Land gestohlen worden."
Ein Gefühl, das sich seit fast 250 Jahren durch die Geschichte Polens zieht: beginnend mit dem Aufteilen des Landes unter Preußen, Österreich und Russland.
"Wir waren das Opfer der Achsenmächte, der Russen, der Sowjets, der Deutschen, der Ukraine, Opfer eingebildeter jüdischer Verschwörungen, Opfer der Geschichte."
Genauso ein Opfer waren die Balten – und so ist der erhellende Artikel von Andrzej Stasiuk gleichzeitig auch fast schon ein Porträt des Letten Alvis Hermanis.

Wo man Korrespondenten bespuckt

In der TAZ lesen wir:
"Auch mir hat man schon hinterhergespuckt mich durch die Menge verfolgt und nachgesagt, ich arbeite für einen Lügen- und Koranschulen-Sender".
Den Lügen- und Koranschulen-Sender hören Sie gerade – denn im Interview mit der TAZ hat unsere Sachsen-Korrespondentin Nadine Lindner erzählt, was sie alles erlebt, wenn sie montags Pegida-Demonstrationen in Dresden beobachtet.
"Vor ein paar Wochen ist ein russischer Kameramann geohrfeigt, rund um den Jahrestag der Pegida-Demos sind Leute richtig verprügelt worden."
"Pegida" in Dresden: Symbolischer Galgen für Merkel und Gabriel.
"Pegida" in Dresden: Symbolischer Galgen für Merkel und Gabriel.© Deutschlandradio / Nadine Lindner
Der Berliner TAGESSPIEGEL führt uns auf andere mediale Fährten. "In Japan, Nordamerika, Westeuropa oder Russland sind Katzenvideos besonders populär", erzählt über einen großen Trend Jason Eppink, der in New York eine Ausstellung über die schnurrenden Vierbeiner im Internet zusammengestellt hat. "Katzen haben Gefühle", erzählt der Mann mit der Katzenallergie noch:
"Es gefällt uns, wenn Katzen handeln wie wir."
Lieber nicht.
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