Aus den Feuilletons

Die Grünen als SPD des 21. Jahrhunderts

04:21 Minuten
Annalena Baerbock und Robert Habeck sitzen vor einem Monitor mit Sonnenblume.
Was wohl Baerbock und Habeck dazu sagen? Die "SZ" kürt die Grünen zur Wohlfühl- und Achtsamkeits-SPD. © picture alliance/ Kay Nietfeld
Von Klaus Pokatzky · 11.03.2021
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Vor den Landtagswahlen wirft die "SZ" einen Blick in die Zukunft der Parteien und kann dort die SPD kaum mehr entdecken. Es werde zwei mittlere Parteien geben, orakelt das Blatt: Union und Grüne.
"Es war eine kleine Technikrevolution, die 1963 bei der Berliner Funkausstellung vorgestellt wurde", lesen wir im Berliner TAGESSPIEGEL über längst vergessene Zeiten: 1963, als die Menschen noch zur Berliner Funkausstellung strömen durften – ganz ohne Masken. Und was wurde dort vorgestellt?
"Die Audiokassette. Entwickelt hatte sie der niederländische Ingenieur Lou Ottens, der bei der Firma Philips arbeitete. Die Kassette spielte in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle am Musikmarkt."
Nun ist Lou Ottens mit 94 Jahren gestorben. Für die jungen Menschen heute ist seine Erfindung von gleicher Bedeutung wie eine elektrische Schreibmaschine – die hatte ja noch nicht mal eine Taste für ein Lach-Emoji, jenes grinsende Wesen, mit dem wir etwa bei Facebook analogen Humor zeigen können.

Das Emoji lacht nicht mehr

"Das Internet ist scheinbar voller Menschen, die sich lachend auf dem Boden wälzen", heißt es in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG über die Inflation des Grinsebildchens in Corona-Zeiten. "Das kleine lachende Gesicht mit dem weit aufgerissenen Mund und den zusammengekniffenen Augen hat seine Heiterkeit verloren", meint die Schriftstellerin Selma Mahlknecht.
"Es ist zur Fratze des Hasses geworden, mit dem weggelacht wird, was man nicht mehr ertragen kann. Der Lockdown wird verlängert – haha. Mutationen verbreiten sich an Schulen – haha. Krankenhäuser am Limit – haha. Es ist ein distanzierendes, ein überlegenes Lachen."
In der Aufzählung fehlt noch dieses: Maskenaffäre – haha; Politikerrücktritte – haha. "Die einen setzen auf Masken, die anderen lassen sich von Aserbaidschan aushalten, um das Image der Diktatur ein wenig zu schönen", steht in der Tageszeitung TAZ.

Wie entwickelt sich die politische Landschaft?

"Und sie alle interpretieren Politik als Beruf, der erst mit ordentlichen Nebenverdiensten richtig Spaß macht", meint Michael Braun. "Mindestens zwei Abgeordnete, strategisch gut auf CDU und CSU verteilt", so die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, "haben sechsstellige Provisionen beim Verkauf von Corona-Masken an die Behörden verdient," schreibt Kurt Kister. "Die meisten, die das hören, denken: Schweinerei."
Oder eben: haha!
Kurt Kister geht es aber nicht so sehr um zweifelhaftes Gebaren von Abgeordneten, sondern um die Entwicklung unserer politischen Landschaft. Und da blickt er auf die größte Wählergruppe: die Über-Fünfzigjährigen.
"Ihre politischen Ansichten lassen sich nicht mehr, wie in der alten Bundesrepublik, parteigeografisch als konservativ (Union) oder eher links (SPD, Grüne) beschreiben. Die 61-jährige Durchschnittswählerin der Zukunft, die in der Stadt lebt, neigt mal den Grünen zu, mal vielleicht einer Wählerinitiative und nimmt vieles wahr, was nicht 'links' und nicht 'rechts' ist."

Nur noch zwei Parteien

Wir warten gespannt, wann sich diese Einsichten auch bei all den Politikwissenschaftsprofessoren durchsetzen, die uns am Sonntag nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sicherlich wieder etwas von einem "bürgerlichen Lager" in unserer Parteienlandschaft erzählen werden, als lebten wir noch in den Zeiten von Audiokassetten und elektrischen Schreibmaschinen.
Kurt Kister blickt voraus: "Es wird in mittlerer Zukunft in Deutschland nicht mehr zwei große und etliche kleinere Parteien geben. Vielmehr läuft es auf zwei mittlere Parteien hinaus, nämlich die Union, die tendenziell in den nächsten zwölf Jahren weiter verlieren wird, und die Grünen, die zu einer Wohlfühl- und Achtsamkeits-SPD des 21. Jahrhunderts werden könnten."
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