Aus den Feuilletons

Der wahre Nietzsche

Steinfigur von Friedrich Nietzsche in der Gedenkstätte in Röcken, Sachsen
Tänzer, Zen-Mönch, Katholik - die "FAZ" trifft in der Gedenkstätte für Friedrich Nietzsche auf Menschen, die glauben zu wissen, wer er in Wahrheit war. © picture alliance / imageBROKER / Jason Langley
Von Hans von Trotha · 27.08.2018
Die Kulturseiten der Zeitungen beschäftigen sich mit Wahrheit und Lüge in allen Facetten. Die "Süddeutsche Zeitung" sucht das wahre Leben in Reality-Shows, die "FAZ" fahndet nach dem wahren Nietzsche und die "Welt" stellt Wahrheitsähnliches in den Naturwissenschaften fest.
"Einer von zwei Franzosen hat bereits ein Buch geschrieben, schreibt gerade eines oder wird eines schreiben, einer von tausend will ein Buch lesen." Das zitiert Wolf Lepenies in der Welt und fügt hinzu: "Der Autor dieses Zitats, Régis Debray … hat über siebzig Bücher geschrieben. Und auch wenn sein neuestes Buch eine Bilanz seines Lebens und Schreibens zieht … – es wird bestimmt nicht sein letztes gewesen sein."
Fidel Castro hatte Debray zu Che Guevara geschickt. Debray wurde "gefangen genommen und zu dreißig Jahren Haft verurteilt", wie Lepenies erzählt. "Für seine Befreiung setzten sich JeanPaul Sartre, François Mauriac und André Malraux ein." Lepenies verweist auf die "französische Wertschätzung für die Vermischung von Literatur und politischem Engagement".

Naturwissenschaft statt Literatur oder Soziologie

Gewidmet ist das Buch jedoch Debrays sechzehnjährigen Sohn Antoine, es "sollte ihm durch Rückblick auf die Lebensgeschichte des Vaters die Entscheidung für die Schwerpunktsetzung im … Abitur erleichtern. Debray riet sowohl vom literarischen wie vom sozialwissenschaftlichen Zweig ab – und war erleichtert, als Antoine sich für die Naturwissenschaften entschied."
Einen Bereich, in dem es, wie es heißt, zumindest manchmal so etwas wie Wahrheit gibt.
"Ist es wichtig, ob eine Geschichte wahr ist oder nicht?", fragt Kai Spanke in der FAZ und berichtet, dass der Schriftsteller Alex Capus beim Erlanger Poetenfest eine Antwort versucht habe, nämlich: "Es ist nicht wichtig, ob sich eine Geschichte tatsächlich zugetragen hat, aber stimmen muss sie."

Wahrheit und Lüge bei Nietzsche

Über Wahrheit und die ihr so gern entgegengesetzte Lüge hat im außermoralischen Sinne ja einst Nietzsche nachgedacht – und dabei so gründlich mit dem Hammer philosophiert, dass es die Leute heute noch durcheinanderbringt. Wie sehr, davon erzählt der Anglist Elmar Schenkel, auch in der FAZ, indem er von den Gegenständen – Blumen, Steine, ein Plastikpferd – und von den Kommentaren berichtet, die Menschen am Grab Nietzsches in Röcken hinterlassen.
Diese Leute glauben zu wissen, wer Nietzsche in Wahrheit, war. So zitiert Schenkel eine japanische Balletttänzerin mit dem Seufzer: "Ach, ihr Deutschen, dass ihr euren Nietzsche immer so schwerfällig darstellt … In Wirklichkeit war er doch ein Tänzer! Ein Zen-Mönch", so Schenkel weiter, "sagte, hätte Nietzsche einen weiteren Schritt getan, so hätte er satori, Erleuchtung, erfahren. Wenige Tage später" sei ein Jesuit gekommen, "der meinte, Nietzsche hätte mit einem weiteren Schritt den Weg in die katholische Kirche gefunden. Selbst einige Nazis", so Schenkel, "haben feststellen müssen: Nietzsche hätte ein guter Nazi sein können, wenn er nur an Antisemitismus, Nationalismus und Rassenlehre geglaubt hätte."
Wer der wahre Nietzsche war – oder ist – wird wohl auch nach dieser Ausgabe der FAZ eine offene Frage bleiben.

Die Leute springen selbst von der Klippe

Eine Spielart der Wahrheit ist das "wahre Leben", das im Fernsehen in sogenannten Reality Shows gern an seine Grenze getrieben wird. Und hier ist gerade mal nicht von Donald Trump die Rede. Sondern von Sacha Baron Cohen. Dessen jüngste Show "Who Is America" hat nun, so Jürgen Schmieder in der Süddeutschen, "für Konsequenzen im (da ist es:) wahren Leben gesorgt". In der letzten Folge sollte nämlich Sarah Palin auftreten – der Auftritt wurde aber nicht ausgestrahlt. Die habe sich aber vorher schon beschwert, Cohens Strategie sei "widerlich". "Diese Strategie", erläutert Schmieder, "ist bekannt und bewährt: Cohen verkleidet sich, in 'Who Is America?' zum Beispiel als Anti-Terrorismus-Experte, Verschwörungstheoretiker oder Milliardär. Er", und das ist eine wirklich eine schöne Erklärung, "führt Leute an eine Klippe heran, doch er schubst sie nicht. Er wartet, bis sie selbst hinunterspringen."
"Mit dem Verzicht auf Palin", schließt Schmieder, "überzeichnet sich Cohen selbst. Die Leute ahnen, dass sie etwas unfassbar Dummes gesagt haben muss, und sie hat sich selbst entlarvt, indem sie sich vorab derart heftig darüber beschwert hat. Warum sollte man das Material also noch zeigen?" Schmieder zitiert den verantwortlichen Programmchef mit dem schönen Satz: "Da haben sich Leute vor einen Bus geworfen, der gar nicht in ihre Richtung unterwegs war."
"Das", so Jürgen Schmieder, "ist eine Blaupause zum Entlarven von Populisten, und sie sollte viel häufiger angewendet werden."
Also am Ende doch schon wieder alles über Trump.
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