Aus den Feuilletons

"Der drollige Dressman aus Wuppertal"

Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP, äußert sich am 20.11.2017 bei einer Pressekonferenz nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen.
Der FDP-Vorsitzende Lindner stellt sich nach dem Abbruch der Sondierungsgespräche der Presse. © picture alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka
Von Hans von Trotha · 21.11.2017
Die "taz" gibt Christian Lindner die Schuld für die abgebrochenen Koalitions-Verhandlungen. Die gescheiterten Jamaika-Verhandlungen dominieren thematisch die Kulturseiten der Zeitungen - wenn auch ohne große Analysen.
Es scheint Themen zu geben, über die auch das Feuilleton länger als vierundzwanzig Stunden nachdenken muss. Dazu gehört der Abbruch von Koalitionssondierungen.
Die FAZ tut grad so, als stünde der Abbruch noch bevor, und als sei es dabei tatsächlich um die Flüchtlingspolitik gegangen. Die erklärt Reinhard Merkel, emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie, jetzt auch noch zum "moralischen Desaster".
Dazu wird sie, so Merkel, "mit der nachgerade tragischen Fehlallokation ihrer Mittel: An die 300 Milliarden Euro", rechnet der Professor vor, "werden die Aufnahme und die Versorgung schon der bisher Zugewanderten in den kommenden zehn Jahren kosten. In den oft bitterarmen Ländern ihrer Herkunft", fährt er fort, "wäre dieses Geld das Zehn- bis Fünfzigfache wert. Damit ließe sich das Elend der Menschen dort, ja, beinahe das der ganzen Welt in ungleich höherem Maße lindern als durch die Aufnahme und Versorgung jenes Bruchteils von ihnen, der es bis hierher geschafft hat."

Gefehlt hat das politische Ziel

Ja klar. Muss Professor Merkel nur noch für Verhältnisse sorgen, in denen alle da bleiben können, wo sie gerade sind. Dann hätten wir das auch vom Tisch. Warum saß der Mann nicht mit in den Verhandlungen?
Oder Peter von Becker. Der bringt im Tagesspiegel knallhart auf den Punkt, woran´s gehapert hat: "Was den Jamaika-Verhandlungen offenbar gefehlt hat", meint er, "war ein übergreifendes politisches Ziel." - Auf den Satz hätten sogar die hinter dem Balkon sich einigen können.
Gustav Seibt ist schon einen Schritt weiter. Er scheint sich damit abgefunden zu haben, dass jetzt halt mal keiner regiert. In der Süddeutschen erklärt er: "Die Geschichte der Weimarer Republik zeigt, warum die Versuchung für Politiker, nicht zu regieren, so groß ist". Fazit:"Nichtregieren, das ist eine immer präsente Versuchung im Parlamentarismus, … . Man übernimmt keine Verantwortung, weiß aber, wie es nicht geht."

Failed State Deutschland

In der taz hat macht Uli Hannemann ordentlich Radau. Wegen des bevorstehenden Weltuntergangs:"Panic of the town: Wir werden alle sterben. Die Polizei schießt auf Plünderer, jeder ist sich selbst der Nächste, und in der Ferne, gähn, brennt mal wieder der Reichstag. Woche eins im Failed State Deutschland."
Immerhin spricht er den Namen aus: Christian Lindner: "Der drollige Dressman aus Wuppertal", so Hannemann, "hat entschieden: Wir werden alle sterben! Egoistisch hat er den Karren gegen die Wand gefahren. Seine volle Hose, die er hinter angeblicher Prinzipientreue vor uns versteckt wie ein beschämter Inkontinenter vor den Pflegekräften, führt unser Land in ein Chaos, gegen das die Weimarer Republik ein Plenum der Eltern von Bullerbü gewesen sein wird." - Dessen Funktionsweise uns Gustav Seibt in der Süddeutschen erklärt.

Mit dem User reden wie ein Freund

Die hat dann immerhin doch noch ein Quantum Trost für uns parat: Da ist jemand, der immer auf uns hört und noch zu uns hält, wenn alle Verhandlungen abgebrochen sind: Unter dem Titel "Immer für dich da" stellt Philipp Bövermann uns Replika vor. Mit ihr werden wir uns künftig über alles unterhalten können, vor allem über uns selbst. Die Aussicht ist allerdings, sagen wir mal: ambivalent: Der guten Nachricht: "Replika ist eine App, die lernt, mit dem jeweiligen User zu reden wie ein enger Freund" folgt absatzlos die schlechte: "Sie wirkt wie ein hyperintelligenter und fast allwissender Demenz-Patient im Endstadium".
"Was Replika nicht kann", schreibt Bövermann, "ist Themen erkennen." Themen nicht erkennen – das klingt gleich wieder nach Sondierungsverhandlungen, erst Recht die nähere Erläuterung: Sie "gibt automatische Antworten, oft erstaunlich gute, sie geht auf den Benutzer ein, aber sie weiß nie, wovon eigentlich gerade die Rede ist."

Schön genug, dass eine Seele darin wohnen wollen würde

Programmiererin Eugenia Kuyda definiert das Ziel von Replika so: "Einen Computer zu erschaffen, der schön genug ist, dass eine Seele darin wohnen wollen würde." Übertragen auf das Thema des Tages, hieße das, eine Regierung zu bilden, der man das zutrauen würde. Dafür ist der Rückzug von Christian Linder doch schon mal ein erster Schritt.
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