Nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen

Merkel als "Großmeisterin der politischen Kargheit"

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt am 20.11.2017 in Berlin zur Sitzung der CDU/CSU Bundestagsfraktion im Reichstag. Die FDP hatte die Jamaika Sondierungsgesprächen zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen zur Bildung einer Regierung abgebrochen. Foto: Michael Kappeler/dpa | Verwendung weltweit
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zeigte sich nach dem Ende der Jamaika-Verhandlungen erstaunlich gelassen © dpa
Torsten Körner im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 21.11.2017
Bundeskanzlerin Angela Merkel sei keine "Dramaqueen", sagt der Filmemacher Torsten Körner. Zwar bewundert er ihre Ruhe in der Krise, doch mangele es ihr am Mut zum Pathos und zur Vision. Auch daran habe es bei den Jamaika-Sondierungen gefehlt.
Dem politischen Weg Angela Merkels hat sich der Dokumentarfilmer Torsten Körner vor einem Jahr in einem 90-minütigen Filmporträt gewidmet. Er zeigte in "Die Unerwartete" eine Politikerin, die weiß, was sie tut und mitunter auf Risiko spielt, um sich durchzusetzen. Der Film bot die Chance, die Bundeskanzlerin in unterschiedlichsten Situationen zu beobachten. Auch nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungsgespräche war jetzt erneut eine Kanzlerin zu sehen, die Krisen immer mit erstaunlicher Ruhe begegnet.

Bemerkenswerter Auftritt

Über diese Form der Krisenstrategie der Kanzlerin zeigt sich Körner wenig erstaunt: "Sie ist eine Großmeisterin der politischen Kargheit", sagte der Filmemacher im Deutschlandfunk Kultur. Sie habe beim TV-Auftritt breitbeinig dagestanden und gelächelt, als wäre sie so entspannt wie seit einem halben Jahr nicht mehr. "Das war schon ein bemerkenswerter Auftritt." Merkel mache aus ganz wenig ganz viel und aus ganz viel sehr wenig. "Sie ist keine Dramaqueen – wenn wir viel Drama haben, dann macht sie das Drama eben klein."

Fehlende Vision für Jamaika

In den Medien werde Merkel oft vorgeworfen, es fehle ihr an Pathos, einer Erzählung, einer Utopie oder einem Blick in die Zukunft. "Das hat sie nicht, das ist ihr nicht gegeben", sagte Körner. Dafür sei sie sehr zäh und strahle eine Unerschütterlichkeit aus. Allerdings habe sich in den Sondierungsgesprächen auch gezeigt, dass sie den Verhandlungen keine Sinngebung verliehen habe. "Sie hat das nicht als bürgerliches Modernisierungsprojekt ausgerufen", sagte Körner. "Es hätte auch ein begeisterungswürdiges Projekt sein können, so verschiedene Partner aneinander zu binden und daraus etwas zu machen." Aber die Kanzlerin schaffe es nicht, Funken zu schlagen. "Das vermisse ich als Beobachter und Bürger und insofern könnte sie da noch dazu lernen." (gem)

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Sie steht seit zwölf Jahren an der Spitze der Bundesregierung, und eigentlich hatte man fast angenommen, das vierte Mal könnte für Angela Merkel eine Art Selbstläufer werden. Nun wird sich zeigen, ob das tatsächlich so wird. Sie galt ja als Anker in unruhigen Zeiten, als mächtigste Frau der Welt, als eine, die scheinbar nichts erschüttern kann. In den vielen Jahren in der Politik hat sie bekanntermaßen schon viele Krisen bewältigen müssen. Und ausgerechnet jetzt wurde ihr sogar mal gedankt dafür:
"Ganz besonders will ich danken der Bundeskanzlerin, und ich will danken dem Horst Seehofer …"
"Ganz herzlichen Dank also von uns an Angela Merkel."
"Ich habe heute der Bundeskanzlerin gedankt für diese Verhandlungsführung. Höchster Einsatz, höchste Konzentration, höchste Kompetenz."
Horst Seehofer war das und andere, die da der Kanzlerin gedankt haben, die ihr ja sonst ganz gern mal Steine in den Weg gelegt haben. Aber Angela Merkel hat, kein Wunder in so einer langen Zeit, auch Fehler gemacht, auch gravierende – denken wir an die Euro-Krise, die Energiewende, die Grenzöffnung für Flüchtlinge.
Dennoch, gestern Abend im ZDF konnten wir wieder erleben, mit welcher Ruhe Angela Merkel auch dieses Scheitern der Sondierungsgespräche für eine neue Regierung bewertet hat. Fast gar nicht eigentlich, in dieser typischen Merkel'schen Art. Über die Merkel'schen Krisenstrategien will ich jetzt mit Torsten Körner sprechen. Er ist Dokumentarfilmer, Fernsehkritiker, Schriftsteller und hat im vorigen Jahr einen 90-Minuten-Dokumentarfilm über die Kanzlerin gedreht, "Angela Merkel. Die Unerwartete". Schönen guten Morgen!
Torsten Körner: Guten Morgen!
von Billerbeck: Wenn Sie die Merkel'schen Krisenbewältigungsstrategien ansehen in der Vergangenheit, sind die auch in diesem Fall hilfreich?
Körner: Sie ist ja eine Großmeisterin der politischen Kargheit, und mich hat im Moment, als Christian Lindner vor die Presse trat und ausstieg aus den Sondierungsgesprächen, stark an die Elefantenrunde 2005 erinnert, als Gerhard Schröder ganz empört aufwallte und sagte: Sie glauben doch nicht im Ernst, dass Sie mit meiner Partei, der SPD, regieren wird. Und blitzartig sammelte sich die CDU, die Union insgesamt hinter der Kanzlerin, hinter der angeschlagenen Frau Merkel.
Und das war gestern Abend eigentlich auch so zu beobachten. Christian Lindner gab den rebellischen Austreter und den geradlinigen Superhelden, und sofort sammelten sich all hinter der Kanzlerin und standen hinter ihr wie eine Eins, was in all den Monaten zuvor nicht zu beobachten war. Und als man sie dann gestern Abend im Fernsehen beobachtet hat, wie sie da unerschütterlich stand, breitbeinig, lächelnd, wirkte sie so entspannt wie seit einem halben Jahr nicht mehr. Das war schon ein bemerkenswerter Auftritt.
Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche
Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche gab es demonstrativen Rückhalt für die Kanzlerin. © dpa/Bernd von Jutrczenka

Kollegialer Umgang

von Billerbeck: Merkel, ich hab es erwähnt, hat ja schon viele Krisen überstanden – Finanzkrise, wir sind mitten in diesen Brexit-Verhandlungen, die Flüchtlingspolitik, Fukushima –, und immer wieder wurde über ihre Stärke diskutiert, und Sie sagen das ja auch so unterschwellig wieder. Worin besteht die eigentlich?
Körner: Ich sagte ja, Großmeisterin der politischen Kargheit. Das meint, sie macht aus ganz wenig sehr viel, und aus ganz viel macht sie sehr wenig. Das heißt, sie ist keine Drama-Queen. Wenn wir viel Drama haben, dann macht sie das Drama eben klein. Was wir oft in den Medien vermissen, was ihr oft vorgeworfen wird, das ist Pathos, das ist Erzählung, das ist Sinngebung, das ist Utopie oder ein Blick in die Zukunft.
Das hat sie nicht, das ist ihr nicht gegeben. Sie ist aber jemand, der sehr zäh ist. Sie ist jemand, die eine Unerschütterlichkeit ausstrahlt, und sie ist jemand, das hat man jetzt auch im Nachgang zu den Sondierungsgesprächen gesehen, die jetzt zum Beispiel nicht den Herrn Lindner beißt, sondern sehr kollegial immer noch mit ihm umgeht, die sich alle Optionen offenhält. Und das macht sie stark.
von Billerbeck: Wie beschreiben Sie denn eigentlich das Merkel-Muster im Konfliktfall?
Körner: Sie ist kein Alphatier, kein altsam bekanntes, sattsam bekanntes Alphatier. Sie ist eigentlich eine postheroische Politikerin. Der Herr Lindner ist ja ein Superheld gewesen, aber offensichtlich ein Superheld, der nur auf Bildern existierte, und im Krisenfall steckte möglicherweise nicht so wahnsinnig viel dahinter. Die Grünen hatten einen Antihelden mit Jürgen Trittin im Hintergrund, und die SPD hat gar keinen Helden im Augenblick. Und sie hat dieses Heldenstadium, diese Suche nach dem Helden eigentlich schon überwunden, weil sie sich nicht immer aufmuskeln muss. Herr Lindner hat sich im ganzen Wahlkampf, aber auch jetzt in den Sondierungsgesprächen immer aufgemuskelt.
Die Nachwuchspolitiker der CSU muskeln sich auch gerade auf, das hört man, wenn man Dobrindt oder Scheuer oder Söder zuhört. Die muskeln sich rhetorisch auf und wollen natürlich den sehr müden Helden Seehofer stürzen. Aber das ist ihnen bisher nicht gelungen. Und Angela Merkel ist eine, die nicht vom Heroischen kommt. Die ist überraschend nüchtern, pragmatisch. Sie ist in der Krise krisenfest, sie ist zäh. Sie hat eine unglaublich gute Konstitution, und sie gibt auch immer dem kleineren Partner, Verhandlungspartner in Verhandlungen, das, was der sich zumindest zum Teil wünscht. Und das macht sie politisch überlebensfähig.

Exquisites Mienenstil

von Billerbeck: Sie kann es ja auch ertragen, wenn sie auf offener Bühne gedemütigt wird. Erinnern wir uns an die Szene, wo Seehofer sie beschimpft hat, und sie stand ganz locker daneben und tat so, als ob sie das gar nicht angeht.
Körner: Ich glaube nicht, dass sie ganz locker daneben stand. Für ihre Verhältnisse hat sie sich ein exquisites Mienenspiel erlaubt, was sehr schön ausgedrückt hat, was sie davon hält. Aber sie ist niemand, der Porzellan im Krisenaugenblick zerschlägt, das man dann hinterher wieder kitten muss. Das ist ihre Stärke.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) kommt am 09.10.2017 in Berlin in einer gepanzerten Limousine am Konrad-Adenauer-Haus, der CDU-Zentrale, an. 
Bundeskanzlerin Angela Merkel© dpa / picture alliance / Kay Nietfeld
von Billerbeck: Was hat sie denn gelernt aus den diversen Krisen?
Körner: Ich hoffe, sie lernt immer noch. Was ich vermisse als Beobachter, ist, dass sie das, was sie gelernt hat, mehr an uns weitergibt, mehr an uns weiterträgt. Dieses Weltwissen, das sie hat, diese Neugier auf Welt, dieser Gestaltungswille, den sie hat, dass sie den mehr an den Bürger weitergibt. Das ist ihr möglicherweise in den Sondierungsgesprächen auch nicht gelungen. Sie hat zwar einerseits politisch sehr klug sich nicht auf der Vorderbühne aufgespielt, sondern hat moderiert das Ganze.
Sie hat aber von Anfang an dem Ganzen keine Sinngebung gegeben. Sie hat das nicht als bürgerliches Modernisierungsprojekt ausgerufen. Es hätte ja auch ein begeisterungsfähiges Projekt sein können, so diverse Partner aneinanderzubinden, daraus was zu machen, Funken schlagen zu können. Das schafft sie nicht, das kann sie nicht, und das vermisse ich als Beobachter und Bürger, und insofern könnte sie, glaube ich, da noch dazulernen.
von Billerbeck: Torsten Körner war das über die Krisenstrategien von Angela Merkel, und ob sie auch in der aktuellen Lage was taugen. Danke fürs Kommen und auch für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Der Politologe Frank Stauss hat in den letzten 20 Jahren rund 30 Wahlkämpfe als Politikberater begleitet. Nachdem die Jamaika-Sondierungen geplatzt sind, beobachtet der Geschäftsführende Gesellschafter der Kommunikationsagentur Butter nun eine "gewinnbringende Strategie im Verlieren" bei allen Beteiligten. Das Interview mit ihm hören Sie hier: Audio Player

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