Aus den Feuilletons

Das Kino steckt in seiner schwersten Krise

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Wenige Zuschauer sitzen im Kinosaal des Filmpalast Delphi.
Das Kino feiert dieser Tage seinen 125. Geburtstag, macht aber zugleich eine seiner schwersten Krisen durch. © Picture Alliance / dpa-Zentralbild / Gerald Matzka
Von Tobias Wenzel · 27.12.2020
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Vor 125 Jahren führten Auguste und Louis Lumière zum ersten Mal öffentlich einen Film vor. Heute steht das Kino vor dem Aus – dank einer gefährlichen Kombination aus Streamingdiensten und Pandemie, wie der "Tagesspiegel" schreibt.
"Die jungen Leute, heißt es jetzt immer, haben es wegen Corona am schwersten. Sie können nicht feiern, blablabla, ihre Jugend wird vernichtet, heulheulheul", schreibt Uli Hannemann in der TAZ. In Wirklichkeit habe es "der alternde Mann", also er, Uli Hannemann, selbst am schwersten.
Als eine Art Nachklapp zum Tag der Jammerlappen am 26. Dezember – ja, den Tag gibt es wirklich – taucht Hannemann in eine Blase des unterhaltsamen Selbstmitleids ein, wenn er schreibt: "Es gelingt mir leider nicht immer, das aktualisierte eigene Bild vor Augen zu haben, diesen wurmstichigen Sarg aus Fleisch, der einst ein knackiges Bübchen war." Die Überschrift dieses TAZ-Artikels: "Die fitten Jahre sind vorbei".

Eine Kunstform steht auf der Kippe

Die fetten Jahre des Kinos sind vorbei. Bald vielleicht sogar die Zeit des Kinos überhaupt. Diese traurige Botschaft verkünden gleich drei Feuilletons, und das auch noch zum Geburtstag des Mediums an diesem Montag.
"Mit der weltersten öffentlichen, gegen Bezahlung zugänglichen Filmvorführung heute vor 125 Jahren im Keller des Grand Café am Boulevard des Capucines in Paris haben die Brüder Auguste und Louis Lumière fünf Francs Gewinn gemacht", schreibt Hanns-Georg Rodek in der WELT. "Ein Franc Eintritt, 35 zahlende Zuschauer, Raummiete 30 Francs, macht ein Plus von fünf Francs." Der Glückwunschartikel wirkt aber vor allem melancholisch in Tagen, in denen das Kino Rodek zufolge "seine schwerste Krise" durchmacht.
"Die Kombination aus Streamingdiensten und Pandemie stellt tatsächlich eine einzigartige Gefahrenlage dar", schreibt Andreas Busche im TAGESSPIEGEL: "Der Börsenkurs von Netflix schoss in die Höhe, während die Filmtheater künstlich beatmet werden."
"Eine Kunstform" stehe "auf der Kippe", analysiert Verena Lueken in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. "Die Revolution fand an den Weihnachtsfeiertagen statt", schreibt sie und meint: Warner Brothers hat mit "Wonder Woman 1984" einen Kinoblockbuster als Stream im US-amerikanischen Fernsehen herausgebracht und eben nicht zuerst mit gehörigem Zeitabstand im Kino.

Kleine Bildschirme, schlichte Lautsprecher

Und so will das Hollywoodstudio auch 2021 verfahren. Andere Studios könnten nachziehen. Die Exklusivität des Kinos ist damit wohl auch zukünftig, also nicht nur in den Pandemiejahren, passé. "Jetzt wandert die Kunst vermutlich in die Museen und die Arthouse-Kinos, die überleben", prophezeit Verena Lueken in der FAZ.
"Dies ist kein Museum" ruft, als hätte er seine Kollegin gelesen, Hanns-Georg Rodek in der WELT aus. Das Kino müsse "vital" und "populär" bleiben. Das ist Rodeks Hoffnung. Aber die wird durch die Sorge verdrängt, die zutage tritt, wenn er von einer "Wahrnehmungsrevolution" schreibt, die durch das Streaming und die Rezeption über kleine Bildschirme und schlichte Lautsprecher statt über Kinoleinwände und Raumklanganlagen schon im Gange ist:
"Ist es einem wachsenden Teil des Publikums egal, auf welchem Medium es einen Film sieht, darf es sich nicht wundern, wenn sich diese Gleichgültigkeit auf die Macher überträgt. Warum vier Wochen an Ton und Bild feilen, wenn zwei Wochen genügen?", fragt Rodek. "Warum auf Nuancen im Gesichtsausdruck Wert legen, wenn diese sowieso verloren gehen?"

Zum Tod von Ivry Gitlis

Ob Ivry Gitlis, der am Heiligabend mit 98 Jahren gestorbene israelische Geiger, wohl Filme bei Netflix und Co. gesehen hat? Gitlis habe jedenfalls "Musik existenziell" verstanden, schreibt Harald Eggebrecht in seinem Nachruf für die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG und zitiert den Geiger so:
"Wissen Sie, nicht Sie machen Musik, sondern die Musik macht etwas mit Ihnen. Es ist genau wie bei der Liebe. 'Liebe machen' – was für ein dummer Ausdruck! Die Liebe macht etwas mit Ihnen, damit es zu einer Begegnung, Vereinigung, was weiß ich, kommt. Aber Musik oder Liebe machen – keineswegs!"
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