Aus den Feuilletons

Bücher als negative Irritationen

Frank Witzel, Gewinner des Deutschen Buchpreises 2015, am Rande der Verleihung.
Der Schriftsteller, Musiker und Illustrator Frank Witzel © picture alliance / dpa / Arne Dedert
Von Hans von Trotha · 03.07.2017
Kann man Bücher "auslesen"? Der Schriftsteller Frank Witzel will nicht, dass seine Werke hinterher leer sind. Die "FAZ" befasst sich dennoch mit diesem "nur noch in einer negativen Form der Irritation zu fassenden Rest."
Nachwehen der Aktion des sogenannten "Zentrums für politische Schönheit" um Flugblätter gegen Diktatoren gibt es im Feuilleton in Form eines Kommentars von Swantje Karich in der WELT, die meint: "Die Aktivisten haben einen wunden Punkt getroffen. Sie ließen Flugblätter auf den Gezi-Park los, ohne dass ein einziger Mensch gefährdet wurde – in einem Land, in dem ein totalitäres Regime Tausende von Menschen entmündigt und einsperrt."
Die TAZ legt den Finger mit ihrer taz gazete kontinuierlich in diese Wunde, heute besonders eindringlich. Umur Yedikardes berichtet: "Zahlen des türkischen Justizministeriums zufolge sitzen 516 Strafgefangene mit Kind in türkischen Strafvollzugsanstalten." Eine der eingesperrten Mütter erzählt, "der Staatsanwalt würde sie dazu drängen, als Kronzeugin auszusagen und ihr und ihrem Baby lebenslange Haft androhen, wenn sie nicht tut, was gesagt wird'."
Ihr "blieb die Muttermilch weg, als sie die Polizisten vor der Tür stehen sah, daher kann sie ihr Kind nicht ausreichend ernähren. (Ihr) Ehemann ist besorgt: 'Beim Coup müssen meine Frau eine F16 und mein Baby einen Panzer gesteuert haben, sonst wäre die Strafe wohl kaum so hoch.'"
Man kann sich da schwer den anderen, den leichteren Themen zuwenden und bleibt beim Blättern an der Überschrift hängen: "Hat der gerade Scheißkerl gesagt?" – Die SÜDDEUTSCHE hat Annette Stachowski im Interview, ihres Zeichens Dolmetscherin, die seit mehr als dreißig Jahren für Europa tätig ist, erst in der Kommission, dann im Parlament, ein, wie es heißt, "Werkstattgespräch über die Sprache der Diplomatie, Pizzaboten nachts um zwei und die Probleme der Japaner mit Trump". Man muss in diesem Job, lernen wir, "nicht nur wissen, dass sie 'he’s hit for six' für die Deutschen mit 'alle Neune' übersetzen muss. Sondern auch, was zu tun, ist, wenn ein Politiker einen anderen als 'Scheißkerl' bezeichnet."

Rhetorisches Warmlaufen für die WM

Was vorkommt. Womit wir beim Thema Beschimpfungen wären. Und damit bei Fußballkommentator Béla Réthy. Der, so Sven Goldmann im TAGESSPIEGEL, "zählt zur old school der Fernsehreporter und wird in Sozialen Medien so stark angefeindet wie kaum ein anderer seiner Kollegen. Diese Ablehnung", so Goldman, "hat sich im Internetzeitalter verselbstständigt – richtiger wird sie dadurch nicht."
Der Réthy-Fan wirft sich aus Anlass von dessen jüngstem Einsatz am Sonntag im ZDF ritterlich vor ihn: "Nur zum Schluss", heißt es da, "hat Béla Réthy ein bisschen geschwächelt. Beim Versuch, sich für den kommenden Sommer warmzulaufen. Für die Fußball-WM in Russland, bei der das ZDF noch mal am großen Rad drehen darf, bevor es dann vorbei ist, weil Champions League und Olympia nur noch bei der privaten Konkurrenz zu betrachten sind. Also rief der Reporter Réthy um kurz vor zehn in sein Mikrofon: 'Das Spiel ist aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist - nun ja - 'Gewinner des Confederations-Cups.'"
Wozu Johannes Kopp in der Taz den BILD-Titel "Jetzt sind wir (fast) alles" zitiert und dieses Zitat analytisch mit einem schönen Satz vom sogenannten Kaiser Franz kombiniert, der 1990 zu Protokoll gab: "Es tut mir leid für den Rest der Welt, aber wir werden in den nächsten Jahren nicht zu besiegen sein." Bei genauerer Betrachtung", so Johannes Kopp, "war es pures Mitleid, was man Goretzka und Co. entgegenbrachte. Für die Motivation stellte sich das als sehr förderlich heraus. Dem Rest der Welt erging es gegen die unschlagbaren Deutschen einst auch so."

Bücher als unauflösbarer, nicht zu benennender Rest

Bleibt am Ende noch die Frage, die Frank Witzel gerade gestellt hat und die die FAZ aufnimmt, nämlich: "Was sind das für Leute, die mein Buch auslesen?" – "Oft hört man die Formulierung, jemand habe ein Buch 'ausgelesen'". An dieser nahm der Schriftsteller Frank Witzel in seiner Heidelberger Poetikdozentur jetzt Anstoß und fragte: "Aber möchte ich eigentlich, dass meine Romane ausgelesen werden, also hinterher leer sind und ins Regal gestellt werden können, oder geht es mir nicht vielmehr darum, dass in ihnen etwas zurückbleibt, ein unauflösbarer, nicht zu benennender, vielleicht auch nur in einer negativen Form der Irritation zu fassender Rest, der eine Verbindung zum Leser aufrechterhält?"
Gilt das mit dem "unauflösbaren, nicht zu benennenden, vielleicht auch nur in einer negativen Form der Irritation zu fassenden Rest, der eine Verbindung aufrechterhält" nicht auch für unser aller Verhältnis zu Béla Réthy? Und womöglich auch für das Verhältnis des Rests der Welt zu uns? Dann hätten wir nochmal verdammt Glück gehabt.
Mehr zum Thema