Aus den Feuilletons

Braune Schatten über der documenta

04:23 Minuten
Werner Haftmann während der Eröffnung der documenta 2 im Jahr 1959 in Kassel.
Für die SZ-Autorin Catrin Lorch ist es schwer vorstellbar, dass der documenta-Mitgründer Werner Haftmann (links am Pult) (l.) sich an Folterungen beteiligte, an Erschießungen teilnahm und bis zum letzten Tag dem NS-Regime diente. © picture-alliance/ dpa | Eberth
Von Arno Orzessek · 06.06.2021
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Der documenta-Mitgründer Werner Haftmann feierte die Kunst als besonderen Ausdruck der Demokratie. Über seine Nazivergangenheit schwieg er. Diese wird nun aufgearbeitet. Der Moderne-Mythos der frühen Bundesrepublik bröckelt – Thema in der "SZ".
Bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt haben die Grünen die Zehnprozenthürde deutlich verfehlt, doch das hält die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG nicht davon ab, die Partei generell als everybody’s darling darzustellen.
"Das, was an den Grünen gerade so nervt", meint Simon Strauß, "sind nicht ihre Bemühungen um den Klimaschutz. Nicht ihre Versuche, die Welt 'sauberer und leiser' zu machen. Nicht ihre hervorragende PR, die es versteht, einen beinharten Führungsstil im Partei-Inneren nach außen als enthierarchisiertes Gemeinschaftsprojekt zu tarnen. Nein, was an den Grünen so nervt, ist, dass gerade alle für sie sind."

Neue geistig-moralische Wende

Eine krasse Übertreibung, finden wir, aber sei's drum. In Anlehnung an die berühmte geistig-moralische Wende, die Ex-Kanzler Kohl Anfang der 80er-Jahre angekündigt hat – übrigens ein peinlicher Rohrkrepierer –, traut Simon Strauß den Grünen eine "neue geistig-moralische Wende" zu. Und warum? Weil es das Publikum so will:
"Der Klickdruck in den Sozialen Medien, das Moral-Hopping, die Kommerzialisierung der Identitäten – aus diesen Bestandteilen setzt sich derzeitig unser Begriff des Politischen zusammen. Darauf antwortet das Wahlprogramm der Grünen. Und zwar mit dem Versprechen einer Politik der gegensätzlichen Geschwindigkeiten: einerseits Bewahrung und Rückkehr zum 'Natürlichen', andererseits Veränderung und Aufbruch im 'Kulturellen'.
Das Wort, das zwischen beiden Polen vermittelt, lautet: Vielfalt. Auf das können sich konservative Umweltschützer und woke Genderaktivisten einigen – und damit offensichtlich eine Vielzahl von Deutschen hinter sich vereinen, die in früheren, schlechteren Zeiten noch Solidarität oder Gemeinsinn gewählt hätten."

Duftbegrünung der Union

Die TAGESZEITUNG hegt an der Grünfärbung Deutschlands Zweifel und konstatiert: "Im Streit über eine Benzinpreiserhöhung scheint es gerade so, als seien parteiübergreifend alle gegen Annalena Baerbock." Und darum fragt die TAZ Friedrich Küppersbusch: "Haben wenigstens Sie noch ein Herz für unsere vielleicht zukünftige Kanzlerin?"
"Nein", entgegnet Küppersbusch, "das überlasse ich der FAZ: 'Streit über Benzinpreise – alle stürzen sich auf Baerbock', titelt es da. Die Sehnsucht nach einer Duftbegrünung der Union scheint auch im konservativen Lager so groß, dass man nun Baerbock gegen SPD, FDP und Linke verteidigt", heißt es in der TAZ-Kolumne "Wie geht es uns, Herr Küppersbusch?"

Keine Stunde null in der Nachkriegskunst

"Wie belastet ist die Kunstgeschichte?", überschreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG eine Themenseite, auf der es in erster Linie um Werner Haftmann geht. Jenen Kunsthistoriker, der als theoretischer Kopf der ersten documenta-Ausstellungen gilt, im Nachkriegsdeutschland die von den Nazis verfemte Moderne ins Recht setzte und sich als Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin hervortat.
Doch Haftmann, der Kunst stets "als künstlerischen Ausdruck der Demokratie feierte", wie die SZ hervorhebt, hatte ein übles braunes Vorleben, über das Catrin Lorch nur staunen kann:
"Es ist schwer, sich vorzustellen, dass dieser Mann in den Kriegsjahren als Partisanenjäger an Folterungen beteiligt war, an Erschießungen teilgenommen hatte und bis zum letzten Tag dem nationalsozialistischen Regime diente."

Zweifel am Modernemythos der Bundesrepublik

Weil es aber genauso war, stellen Fachkreise mittlerweile den "Modernemythos" der frühen Bundesrepublik infrage:
"Diese junge Generation von Kunsthistorikern und Forschern begreift die Arbeit von Museumsdirektoren, Ausstellungskuratoren, Kunstwissenschaftlern als zutiefst politisch – oder eben vorsätzlich unpolitisch", erklärt Lorch.
"Sie fordert eine Debatte ein über die Folgen: Was war das für ein Kanon, den die Zeitgenossen von Werner Haftmann und Ernst Buchner prägten? Und: Hätte der anders ausgesehen, wenn sich die junge Bundesrepublik darum bemüht hätte, die Überlebenden und Emigranten zurückzuholen?"
Tja, ob die jüngere Kunstgeschichte tatsächlich umgeschrieben wird? Immerhin wurde ein Joseph Beuys jüngst zum 100. Geburtstag gefeiert, als ob es bei ihm niemals krass antidemokratische, um nicht zu sagen: bräunliche Untertöne gegeben hätte. Aber warten wir es ab!
Was nun die kommende Woche angeht: Am besten, Sie reiten – mit einer Überschrift der FAZ – "auf der großen Welle".
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