Aus den Feuilletons

Botschafter einer vergangenen Welt

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Ein Mann in Indien sitzt auf einem Royal Enfield 350 Bullet Motorrad.
Die Inder wussten es schon längst: Das meistverkaufte Motorradmodell der Welt ist die Royal Enfield Bullet. © imago-images / All Canada Photos / Ian Cook
Von Hans von Trotha · 09.11.2020
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Der perfekte Botschafter der "Welt von gestern" ist ein Motorrad, so die "Süddeutsche Zeitung": Das Modell des britischen Herstellers Royal Enfield sei sogar ganz leicht zu reparieren und erfülle damit ein wichtiges Kriterium der "Millennials".
Hannes Stein fragt in der WELT: "Stehen die USA am Abgrund - oder vor einem neuen Anfang?" Er ist dabei allerdings weniger zukunfts- als retroorientiert. "Wer das Land im Jahr 2020 verstehen will", meint er, "muss jetzt einen Song von 1992 hören. Prophet am Mikrofon: Leonard Cohen."

Nostalgie und Sentimentalität sind angesagt

Nichts, aber auch gar nichts gegen Leonhard Cohen - doch die eins-zu-eins-Zeilen-Interpretation, in der Hannes Stein - ausgehend von dem Vers "Democracy is coming to the USA / Die Demokratie kommt in die Vereinigten Staaten" reihenweise Details von heute in den Zeilen von damals erkennt, hat wenig mit Leonard Cohen zu tun, dafür viel mit Hannes Steins Ergebenheit in den Cohen-Vers: "Ich bin sentimental, wenn du verstehst, was ich meine". Und damit sind sie auch bei der WELT wieder ganz vorn dabei - denn: Sentimental ist gerade voll in.
Das steht so ähnlich auch in der SÜDDEUTSCHEN. Das "positivste Gefühl der Jetztzeit ist", so David Pfeifer, "ein freundlicher Narzissmus". Das war zu befürchten. Aber, jetzt kommt's: Die Produkte, die das "mit sich bringt, stellen den Wunsch nach Verbindung dar". Stichwort: "Nostalgie". Und was ist das anderes als Sentimentalität.
David Pfeifer ist dem "Nostalgia Marketing" auf der Spur. Das, lernen wir, "funktioniert ähnlich wie neue Hits, die an alte Hits erinnern". Rätselhaft bleibt, "wieso 'Nostalgia Marketing' auch bei den sogenannten Millennials funktioniert, also den Zielgruppen, die erst geboren wurden, als es keine Plattenspieler mehr gab und Autos bereits aussahen, als wolle man Schulkinder damit erschrecken, anstatt ihnen Quartettkarten zu verkaufen."

Kultur der Reparatur bei den Millennials

Pfeifer zitiert das US-Wirtschaftsmagazin Forbes mit der Spekulation: "In einem Zeitalter unpersönlicher digitaler Medien ist die soziale Verbindung durch Nostalgie ein einfacher Weg für Firmen, optimistische Gefühle zu erzeugen."
"Perfekter Botschafter der Welt von gestern" ist für Pfeifer ein Motorrad: die Royal Enfield Bullet, "ein Klassiker der einstigen Motoristen-Nation England, entwickelt, gestaltet und in Serie hergestellt zu einer Zeit, als man Jaguar E-Type und Mini Cooper fuhr. Sie ist das meistverkaufte Motorradmodell der Welt. Nur hat davon außerhalb von Indien über Jahrzehnte niemand etwas mitbekommen. Doch plötzlich, knapp 70 Jahre später, passt die Bullet wieder in die Zeit". Und sie lässt sich leicht reparieren, was, so Pfeifer, "wiederum in ein beliebtes Hobby der Millennials fällt: die Kultur der Reparatur."
In der FAZ, so die SÜDDEUTSCHE, wunderte sich ein Testfahrer, dass die Bullet von "Motorradhändlern und nicht von Manufactum importiert" wird. Und auch die FAZ macht ihren aktuellen Retro-Punkt: Sie interviewt die DDR-Designerin Christa Petroff-Bohne.
"Design bedeutet in jedem Falle eine Änderung von eingefahrenen Routinen", gibt die zu bedenken und spricht von "moralischer Schönheit". Die Nachfrage: "Dürfen wir das mit Nachhaltigkeit übersetzen?", beantwortet sie mit "Ja". Und heute? Petroff-Bohne macht es kurz: "Große Verschwendung und viel Überflüssiges." Dagegen steht ein nostalgischer Run auch auf das DDR-Design. Schließlich trägt das Interview die Überschrift: "Schönheit in Serie".

"Linearer Kanal" für Entscheidungsmüde bei Netflix

"Apropos Serie". Wer denkt da heutzutage, wo das "positivste Gefühl" gerade ein "freundlicher Narzissmus" ist, nicht an Netflix. Das ist aber eher etwas für Jüngere. Um die über 60 doch noch zu erwischen, führt der Streamingdienst, erst einmal in Frankreich, "einen linearen Kanal im Stil des klassischen Fernsehens ein", "ein Ruhekissen für Entscheidungsmüde", wie es Denis Gießler in der TAZ nennt.
"Decision Fatigue, das Ermüden an Entscheidungen, nennt sich in der Psychologie das Phänomen, wenn sich Menschen einfach nicht mehr entscheiden können, weil die Auswahl zu groß ist", so die TAZ. "Womöglich stellt das Unternehmen jetzt erst fest, dass Entscheidungsfreiheit nicht alles ist - dass viele User*innen sich gern von einem festen Programm berieseln lassen."
Und weil die über 60 sind, gibt es für den Rieseldienst à la ZDF keinen Algorithmus, sondern händisch kuratierendes Personal. Wenn das nicht nostalgisch ist. So nostalgisch wie ein Programm, das einen in eine Zeit versetzt, in der alles gerade deswegen gut war, weil man sich die Filme nicht aussuchen konnte. Das war aber auch erleichternd!
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