Marcus S. Kleiner: "Streamland. Wie Netflix, Amazon Prime & Co. unsere Demokratie bedrohen"
Droemer Verlag, München 2020
304 Seiten, 20 Euro
Die Illusion der Konsumentenfreiheit
08:32 Minuten
Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime versprechen Freiheit. Sie lieferten aber "betreutes digitales Leben", kritisiert der Medienwissenschaftler Marcus Kleiner. Ihre Algorithmen seien "wie eine Wirklichkeitsbrille, die uns aufgesetzt wird".
Schier grenzenlose Auswahlfreiheit statt kuratierter Programme, die vorgeben, was Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen bekommen: Gerade für Jüngere ist Medienkonsum oft nur noch "on demand" vorstellbar, bevorzugt über Streamingdienste wie Netflix oder Amazon Prime.
Doch statt des angeblichen Zugewinns an Freiheit fördern diese Streamingdienste ein "betreutes digitales Leben", das in Selbstentmündigung und Selbstausbeutung mündet, meint Marcus Kleiner, Professor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences.
Vom Leben in der digitalen Kultur geprägt
Schuld daran sind die Algorithmen, mit denen Streamingdienste das Sehverhalten auswerten und auf dieser Basis Sehempfehlungen machen: "Diese permanente Auswertung ist wie eine Wirklichkeitsbrille, die uns aufgesetzt wird, und wir zunehmend die Fähigkeit verlieren, selbst zu entscheiden, was wir sehen wollen."
In seinem Buch "Streamland" analysiert Kleiner, wie dieses Medienkonsummuster die Bildungserlebnisse der "Generation Judith" prägt. Denn die Vertreter dieser Generation seien als Digital Natives zutiefst vom Leben in den digitalen Kulturen geprägt und hätten so etwas wie eine "On demand"-Gesellschaft befördert.
"Digitale Mediendienste sind dafür da, dass sie überall genutzt werden können, alle meine Wünsche durch eine Suchanfrage sofort befriedigen, unmittelbar, und das verändert auch den Zugang zur Wirklichkeit", betont Kleiner.
Diese "Soforthaltung" bei jungen Studierenden stellt er auch in seiner Lehrtätigkeit an der Hochschule fest: "Es soll nicht kompliziert sein, es muss sofort eine Antwort geben, ich will das, was mich gerade interessiert, ich googele es sofort usw., also ich gehe nicht mehr in eine Bibliothek, ich lasse mir das liefern und so weiter."
"Bildung bedeutet Erleben von Fremdheit"
Seine Kritik will Kleiner gleichwohl nicht als Klage über eine angeblich bildungsunfähige Jugend verstanden wissen: "Ganz im Gegenteil. Wir haben heute hohe Sensibilitäten, zum Beispiel für die Themen Rassismus, Sexismus, das Klimathema usw."
Diese hochsensibilisierte, hochintelligente Generation bekomme jedoch durch die Dienstleistungen der digitalen Medienkultur - vom Fitnesstracker über Tinder bis hin zu Kaufempfehlungen - "eine Haltung sozialisiert, dass mir zu jedem Zeitpunkt alles zusteht, so wie ich es will", so der Medienwissenschaftler.
"Das heißt, man wird in seinem Wollen, in seiner Ich-Position festgesetzt, und Bildung bedeutet für mich ein Erleben von Fremdheit, von Dingen, die ich noch nicht weiß, über die ich noch nicht nachgedacht habe, die mich nicht permanent spiegeln. Das ist meine Kritik."
(uko)