Aus den Feuilletons

Berlinale-Skandal ohne Publikum

03:54 Minuten
Still aus "The First 54 Years – An Abbreviated Manual for Military Occupation" von Avi Mograbi.
Regisseur Avi Mograbi lasse Soldaten zu Wort kommen, die vor mehr als 60 Jahren gekämpft hätten, kritisiert die "Welt": © Avi Mograbi
Von Gregor Sander · 02.03.2021
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Der Dokumentarfilm "The First 54 Years" des israelischen Regisseurs Avi Mograbi sei Propaganda gegen Israel, schreibt die "Welt", und die Berlinale habe ihren ersten Skandal 2021. Nur: Das bleibt in Pandemiezeiten ein stiller Skandal.
"Die Berlinale hat ihren ersten Skandal", mit dieser Behauptung beginnt die Kritik von Jan Küveler in der Tageszeitung DIE WELT. Allerdings erklärt er dann auch gleich sein Problem mit diesem Skandal, "den man erst mal still und leise mit sich selbst ausmachen muss, weil ja niemand da ist, mit dem man sich über das Gesehene austauschen könnte, auf dieser Pandemie-Berlinale, die zu einsamen Kritikern ins Wohnzimmer gestreamt wird."

Berechtigter Propagandavorwurf?

Das Werk, das ihn so einsam erregt, ist der Dokumentarfilm "The First 54 Years" des israelischen Regisseurs Avi Mograbi, dessen Handlung Küveler so beschreibt:
"Man nehme lauter israelische Soldaten und lasse sie von ihren Einsätzen in den besetzten Gebieten berichten. Einige von ihnen sind schon alte Männer, die in den späten Sechzigerjahren dienten. Andere sind jünger, dann geht es um die Neunziger bis in die jüngere Vergangenheit."
Die israelischen Soldaten berichten von Plünderungen, Zerstörungen von Eigentum aber auch über von ihnen begangene Folter. Für Küveler ist das alles zu einseitig israelkritisch und der ganze Film eine "als Dokumentation getarnte anti-israelische Propaganda."
Allerdings gibt es auch in Küvelers Kritik verstörende Passagen, etwa, wenn er die Arbeit von Avi Mograbi so beschreibt: "Die gefilmten Interviewschnipsel werden immer wieder unterbrochen, entweder von stummem Archivmaterial, das die Aussagen unterstützen soll, oder vom Regisseur selbst. Er sitzt zu Hause im Wohnzimmer und erklärt in einem seltsamen Tonfall, als sei er der hintersinnige, wohlmeinende Opa, der seinen Enkeln, nun ja, was vom Krieg erzählt."
Wie gern würde man sich selbst sein Urteil bilden, aber das verhindert ja leider das Virus und die daraufhin zweigeteilte Berlinale, die das Publikum erst im Juni beteiligt.

Neuer Roman von Christian Kracht

Was weiterhin mühelos geht, ist das Lesen und da kündigt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen neuen Roman von Christian Kracht an und verkündet voller Stolz: "Dies ist das einzige Interview, das der Schriftsteller zum Erscheinen gibt."
"Eurotrash" heißt das Werk und der Held ist ein gewisser Christian Kracht, was Johanna Adorjan zu folgender Fragenpirouette ansetzen lässt:
"Der Icherzähler von 'Eurotrash' ist der Autor von 'Faserland'. Oder behaupten Sie gerade, dass die namenlose Hauptfigur in 'Faserland' Christian Kracht war?" Der zieht sich mit dem folgenden Satz aus der Affäre:
"In meinem neuen Roman sieht sich eben nicht nur der Erzähler in einem Doppelspiegel, sondern auch all meine anderen Romane werden formell zwischen den Buchdeckeln von 'Eurotrash' imitiert." Die Handlung umreißt Adorjan dagegen ganz schlicht:
"Der Icherzähler begibt sich auf eine Reise durch die Schweiz mit seiner alten Mutter. Er will sich mit den Abgründen seiner Familiengeschichte auseinandersetzen." Und Christian Kracht zieht in der SZ folgenden Vergleich zu seinem Debüt:
"Ich habe versucht, den Ton von 'Faserland' wiederzufinden, aber es ist mir nicht mehr gelungen. Die Flottheit fehlt mir, kann man das so sagen? Obwohl, beide Romane enden ja auch mit dem Wort 'Bald'."

Jutta Hoffmann wird 80

Wir wollen hier auf gar keinen Fall mit diesem Wort enden, sondern lieber noch Jutta Hoffmann zum 80. Geburtstag gratulieren. Über deren Rolle im DEFA-Film "Lotte in Weimar" von 1974 schwärmt Maria Wiesner in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG.
"Da bleibt die Kamera im größten Kostümgewühl immer eine Sekunde länger bei ihr hängen, als wäre sie von diesem Gesicht hypnotisiert, das so vollständig in der Rolle ruht, dass selbst das Zucken einer Augenbraue mehr aussagt als zwanzig Zeilen Monolog."
So ganz ohne Arbeit kann sich auch Lena Schneider vom Berliner TAGESSPIEGEL selbst eine achtzigjährige Jutta Hoffmann nicht vorstellen, woraufhin ihr die Schauspielerin diktiert: "'Darauf schweigt sie', schreiben Sie das, 'und lacht sich kaputt', wie Scorsese in 'Pretend It’s a City' mit Fran Lebowitz. Das müssen Sie unbedingt sehen!"
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