Aus den Feuilletons

Aufatmen in der Quarantäne

04:20 Minuten
Die polnische Autorin Olga Tokarczuk steht an einem Bücherregal.
Die hektische Welt sei durch das Virus in einen "normaleren" Zustand gebracht worden, sinniert Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in der "FAZ". © dpa / picuture alliance / Friso Gentsch
Von Lotta Wieden · 30.03.2020
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Für die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk ist die Coronakrise auch eine Chance auf einen anderen, gebremsten Rhythmus des Lebens, schreibt sie in der "FAZ". Dies erinnere an die Kindheit, in der sie Zeit verschwenden durfte.
"Das Leben in der Corona-Krise geht weiter, na klar doch", schreibt die polnische Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Es geht weiter, schreibt sie "aber in einem ganz anderen Takt". Als sie von der präventiven Quarantäne erfuhr, habe sie eine Art von Erleichterung verspürt, verrät die Schriftstellerin:
"Ich habe den Schrank aufgeräumt und die gelesenen Zeitungen zum Papiercontainer gebracht. Ich habe die Blumen umgetopft. Ich habe das Fahrrad von der Reparatur abgeholt. Freude bereitet mir das Kochen."
Und weiter: "Immer wieder tauchen Bilder aus der Kindheit in mir auf, als es viel mehr Zeit gab und man sie 'verschwenden' durfte. Ist es nicht so, dass wir zum normalen Lebensrhythmus zurückgekehrt sind? Dass nicht das Virus die Norm verletzt, sondern umgekehrt: dass jene hektische Welt vor dem Virus nicht normal war?"

Abschied aus der Corona-Schockstarre

Das war's dann aber auch schon mit dem großen WIR in der Krise. Mit diesem 31. März scheinen sich die deutschsprachigen Feuilletons endgültig aus der Phase der ersten Corona-Schockstarre zu verabschieden. Nicht mehr das uns allverbindende Außergewöhnliche der Pandemie steht im Vordergrund – sondern die Differenzierung, die unterschiedlichen Auswirkungen der Krise etwa bei Jung und Alt oder auch zwischen Land und Stadt.
"Wer in Vor-Corona-Zeiten über die lebenswerte Stadt sprach", lesen wir etwa in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, "der redete von Dichte" – einer "Dichte an Menschen und der Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Das Coronavirus macht zwar keinen Unterschied zwischen Stadt und Land, und doch trifft es die Städte ungleich härter. Nicht nur weil Städter im Schnitt deutlich weniger Quadratmeter Wohnfläche zur Verfügung haben als Landbewohner. Was in der Stadt als absoluter Luxus gilt – das eigene Haus mit Garten – ist auf dem Land die Norm."
Sondern auch weil die "surreale Leere jeder Stadt" in diesen Tagen zugleich ihren Untergang markiert. "Vernichtet sie doch das, was eine Stadt bis dahin angetrieben hat – allen voran ihre Wirtschaft."

Virologen regieren die Welt

Das klingt düster – und es kommt schlimmer:
"Was man nicht rechnen kann, muss man entscheiden", mahnt der Unternehmensberater und Philosoph Reinhard K. Sprenger in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG. "Führung zieht ihre Existenzberechtigung aus genau diesen Situationen – wenn es gute Gründe für die eine Seite gibt und gute Gründe für die andere. Im strengen Sinne weiß man erst im Nachhinein, was man entschieden hat. Häufig ziehen Führungskräfte jedoch Berater herbei, die so lange Daten sammeln, bis die Dinge eindeutig und konfliktfrei scheinen. Also nicht mehr entschieden werden müssen."
Der Preis dafür sei "Verantwortungsdiffusion bis hin zur Delegitimierung der Führung." Genau das passiere gerade im großen Maßstab, meint Sprenger: "Die Politik hat abgedankt, Virologen regieren die Welt.", so die NZZ. Auch keine Lösung, lediglich Zerstreuung bietet der Berliner TAGESSPIEGEL, der uns in einer Überschrift zur "Flucht durch Fantasie" auffordert und uns eine Reihe von Videospielen ans Herz legt.
Währenddessen bricht die Tageszeitung die WELT endgültig den Stab über Bob Dylan, der nach acht Jahren mit "Murder Most Foul" noch einmal einen Song herausgebracht hat.

Haribo gegen die Kontaktsperre

Kraft und Zuversicht finden sich lediglich in der TAZ: Das Blatt aus Berlin hat die in Bremen lebende Geophysikerin Christiane Heinicke besucht. Heinicke, die im Jahr 2015 an einem NASA-Experiment teilgenommen hat, bei dem sie mit fünf anderen WissenschaftlerInnen ein Jahr auf engsten Raum lebte, um so die Bedingungen für eine Langzeitmission auf dem Mars zu simulieren, ist uns in Sachen Kontaktsperre wohl um Einiges voraus: So haben die WissenschaftlerInnen in ihrer simulierten Raumstation auch den Einsatz von Virtual-Reality-Brillen gegen Depressionen und Heimweh getestet:
"Zu sehen war etwa der Lieblingsstrand oder die Heimatstadt. Das macht im ersten Moment vielleicht glücklich", erzählt Heinicken, "ist aber auch sehr frustrierend, weil es am Ende doch auch zeigt, was man gerade verpasst."
Ein paar Haribo-Tüten dagegen hätten immer sofort einen positiven Effekt gezeigt.
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