Aus den Feuilletons

Als Satanist beschimpft wegen "Mathilda"

Der russische Regisseur Alexej Utschitel spricht in Moskau über seinen neuen Film «Matilda».
Der russische Regisseur Alexej Utschitel spricht in Moskau über seinen neuen Film "Matilda". © dpa-Bildfunk / Emile Ducke
Von Tobias Wenzel · 04.11.2017
Alles oder nichts - das war der rote Faden dieser Feuilletonwoche, meint Kulturkritiker Tobias Wenzel. So hat Alexej Utschitels Historiendrama "Mathilde" in Russland einen Skandal ausgelöst. Die deutschen Feuilletonisten können das nicht nachvollziehen.
"Es gab den Gegensatz von Vernunft und Aberglaube gar nicht." Daniel Kehlmann sagte das mit Blick auf die Zeit des Dreißigjährigen Krieges im Interview mit der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG. "Für diese Menschen gab es keinen vernünftigen Grund, warum es Magneten geben sollte, Drachen aber nicht." Schön, wenn man so leicht alles zusammenbringen kann.
Alles oder nichts, das war der rote Faden dieser Feuilletonwoche. Alles Teuflische meinten gewisse Russen in Alexej Utschitels Kinofilm "Mathilde" über den – mittlerweile heiliggesprochenen – Zaren Nikolaus II. und dessen Affäre mit der Ballerina Matilda Kschessinskaja ausgemacht zu haben. In Russland brannte deswegen ein Auto, es flog ein Molotowcocktail auf das Büro des Regisseurs, der als Satanist beschimpfte Hauptdarsteller Lars Eidinger kam aus Sorge um sein Leben nicht zur Russland-Premiere. Und nun schrieb Manuel Brug in der WELT über den Film zum Deutschlandstart: "Das alles ist weder blasphemisch noch pornografisch, wie man in Russland zetert. Außer vielleicht drei Titten und einem Hintern gibt es nichts Nacktes zu sehen." Also nichts Skandalöses anstatt alles Werk des Teufels.
Nach dem soll bekanntlich Martin Luther sein Tintenfass geworfen haben. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG, als Abgesang auf den Halloween-, pardon: Reformationsfeiertag, zitierte "Titanic"-Chefredakteur Oliver Maria Schmitt genüsslich, was der Kirchenkritiker Karlheinz Deschner über Luther sagte: "An den Bibellegenden hielt er fest; am Teufelsglauben auch; am Hexenwahn auch; an der Ketzervertilgung auch; am Antisemitismus auch – am Kriegsdienst, an der Leibeigenschaft, den Fürsten. Man nennt es: Reformation."

Deutsche Bahn - Täter und Huldiger zugleich?

Apropos Antisemitismus. "Nein, antisemitisch ist das Verhalten der Bahn gewiss nicht zu nennen", schrieb Klaus Hillenbrand in der TAZ und meinte die Pläne, einen ICE-Zug "Anne Frank" zu taufen. Trotzdem geschmacklos, fand Hillenbrand. Die Reichsbahn sei schließlich der Rechtsvorgänger der Deutschen Bundesbahn gewesen: "Am 28. Oktober 1944 wurde [Anne Frank] zusammen mit 1.308 weiteren Frauen von Auschwitz in das KZ Bergen-Belsen verschleppt. Dabei war die Bahn sehr großzügig – gegenüber SS-Chef Heinrich Himmler. Für Massentransporte mit über 400 Teilnehmern berechnete sie der SS nur den halben Regeltarif. So kostete Anne Franks doppelte Verschleppung nur zwei Reichspfennige pro Kilometer", schrieb Hillenbrand. Und mit Blick auf die geplante Namenstaufe eines ICE-Zugs: "Die Bahn möchte also mit Anne Frank Geld verdienen. Vielleicht war der Massentarif 1944 doch zu niedrig?" Alles zugleich, Täter und Huldiger, könne die Bahn nun mal nicht sein, las man heraus. Dann wohl doch lieber nichts.
"Seltsam, wie lange die Affäre ein nachtschwarzes Nichts umkreiste", schrieb – mit poetischen Ambitionen? – Hanno Rauterberg in der ZEIT über die Sammlung Gurlitt. "Erst jetzt kommt die Kunst ans Licht, und endlich dürfen alle sehen, was manche als Nazi-Schatz bejubelten, als Milliardenfund priesen – und was nun, fast unweigerlich, die meisten enttäuschen dürfte." Eine Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn, eine weitere im Kunstmuseum Bern. Es seien ein paar "beachtliche Werke der französischen Moderne" zu sehen und des deutschen Expressionismus, schrieb Rauterberg. "Ansonsten zeigen die beiden Ausstellungen viele Bilder, die sicher gut über einer Barockkommode hingen, an einer weißen Wand aber verloren wirken." Johanna Schmeller fühlte sich zwar in der Bonner Ausstellung gut aufgeklärt, über Enteignung zum Beispiel, aber überhaupt nicht ergriffen von der geradezu vernachlässigten Kunst. "In Teilen gleicht die Schau deshalb einem Polizeieinsatz", beklagte sie sich in der TAZ. "Gehen Sie bitte weiter, Sie sehen doch, es wird alles getan."

Mauer um Trump herum bauen

Nichts mehr heißt es jetzt für "House of Cards" und Kevin Spacey, nachdem bekannt wurde, dass er Männer sexuell belästigt haben soll. Und wie kam es heraus? "Alles dank der – pfui – sozialen Netzwerke", rief Anne Fromm lobend-ironisch in der TAZ aus, sah aber ein Problem darin, dass dort niemand die Debatten moderiere: "So flogen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz mit Vergewaltigung, Machtmissbrauch und Disko-Grapschern in einen Topf." Dustin Hoffman soll beim Dreh von "Tod eines Handlungsreisenden" im Jahr 1985 eine damals 17 Jahre junge Praktikantin sexuell belästigt haben. Das bestritt nun der Regisseur des Films Volker Schlöndorff ZEIT Online gegenüber auf recht eigenwillige Weise. Dass die Praktikantin Hoffmans Füße massieren sollte: "Fast jeder am Set" habe das getan. Und dass der Schauspieler der Praktikantin wohl auf den Po schlug – für Schlöndorff nur ein Spiel. Wie soll man nun noch diesen Film sehen, ohne sich vorzustellen, wie alle Beteiligten nacheinander die Füße des Handlungsreisenden massieren, er ihnen allen auf den Po haut und sie dabei fragt – eine Frage Hoffmans, an die sich Schlöndorff erinnerte: "Hattest du guten Sex am Wochenende?"
Zum Schluss noch schnell etwas Unverfängliches. Und einen Beleg dafür, dass man sich nicht immer zwischen allem und nichts entscheiden muss. Zum Beispiel im Fall von Trumps Mauer. Tobias Rüther gibt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG einen Einblick in "America is the Greatest Country in the United States", einer neuen Netflix-Stand-up-Show von Judah Friedlander: "'Wir sollen eine Mauer bauen', sagt er zum Beispiel. 'Um Donald Trump herum.' Und natürlich fangen alle an zu lachen, aber Friedlander ist noch nicht fertig. 'Wir hängen Spiegel innen rein, damit er happy ist. Und wenn die Mexikaner das hören, werden sie sagen: Wisst ihr was, dafür zahlen wir gern.'"
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