Aus den Feuilletons

Absurd komischer Austritt

06:25 Minuten
Streichinstrumenten hängen an der Decke in der kleinen Werkstatt von Geigenbaumeister Gerd Mallon in der Stadt Greiz in Thüringen.
Wie sollen die Instrumente über die Grenze kommen? Eine von vielen unbeantworteten Fragen um den Austritt Großbritanniens aus der EU. © Picture Alliance / dpa / Jens Büttner
Von Klaus Pokatzky · 30.03.2019
Audio herunterladen
Ein Rückblick auf eine Woche, an deren Ende eigentlich der Austritt Großbritanniens aus der EU stehen sollte. Doch es kam anders und nun weiß niemand mehr weiter. Sorge um die Instrumente macht sich laut TAGESSPIEGEL auch unter Musikern breit.
"Manche spielen barfuß", lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG – allerdings nicht über kleine Mädchen im Sandkasten. "Manche spielen oben fast ohne", schreibt Eleonore Büning. "Nur die Nägel bleiben Natur. Warum?" Endlich werden mal die wirklich wichtigen Fragen in unserem Leben angesprochen: Warum gibt es so gut wie keine Geigerinnen mit lackierten Fingernägeln? "Im Großen und Ganzen sind lackierte Fingernägel in der Klassik immer noch verpönt, dafür gibt es keine spieltechnischen Ausreden, das ist nichts weiter als ein alter Zopf, eine Konzession an das angeblich hoffnungslos konservative Klassikpublikum", meint Eleonore Büning.

Fingernägel als Provokation

"Was erklärt, warum Katharina Wagner, als sie noch kämpfen musste um den Bayreuther Familienthron, regelmäßig ins Nagelstudio ging, um sich ihre überlangen, frenchlackierten Kunstkrallen schärfen zu lassen: Ein Aufstand war das, eine Kampfansage, eine Provokation. Igitt! Wie ordinär! Die Gesellschaft der Freunde von Bayreuth war pikiert, das Feuilleton rümpfte die Nase." Jetzt wollen wir nur noch wissen, warum Beethoven seine Fingernägel nicht lackiert hat – genau die richtige Frage für Eleonore Büning, die im vorigen Jahr ein wunderbares Buch über unseren Ludwig veröffentlicht hat.
"Großbritannien vereint in sich nun mal Elemente des Komischen und des Absurden", steht in der WELT AM SONNTAG. "Wir sind das Land von Shakespeare und Churchill, wir haben aber auch Monty Python und Alice im Wunderland hervorgebracht", sagt im Interview der britische Schriftsteller Julian Barnes zum absurd komischen Thema der Woche.

Hoffnung auf Referendum

"Der Brexit zerklüftet die Nation dahingehend, dass Mediziner sogar brexitverwandte Angstzustände diagnostiziert haben", hatte die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG über unsere britischen Freunde berichtet. "Patienten klagen über schlaflose Nächte und andere Malaisen", schrieb Gina Thomas. "Ich habe das London Symphony Orchestra einen Tag nach der Brexit-Abstimmung besucht, einige Musiker haben geweint." So zitierte der Berliner TAGESSPIEGEL Simon Rattle, bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker – und einer der vielen Briten, die für die klassische Musik in Deutschland unverzichtbar waren. Sie alle leiden nun unter den Brexit-Folgen: wie etwa auch das Chamber Orchestra of Europe, gegründet von Claudio Abbado 1981 in London, das gar nicht mehr weiß, wie es bald weitergehen soll. "Unser Instrumentendepot ist in London", erzählte der Kontrabassist Enno Senft dem TAGESSPIEGEL: "Kontrabässe, Pauken, Trompeten, Noten müssen für jede Tournee herübergefahren werden. Wir wissen aber nicht, ob wir nach dem Brexit damit überhaupt über die Grenze kommen. Keiner kann uns das sagen."
Und was kommt sonst noch nicht mehr so leicht über die Grenzen, wenn Britannien seine wieder dicht gemacht hat? "Ich werde mich erst mal mit sehr viel Pasta und Dosen mit Tomatensoße eindecken", sagt im Interview mit der WELT AM SONNTAG der europafreundliche Literat Julian Barnes: "wütend und traurig über all diese Zeitverschwendung, diese Inkompetenz und dass wir vor den Augen der restlichen Welt ein so erbärmliches Beispiel für eine Demokratie abgeben." Keine Hoffnung, nirgends? "Meine größte Hoffnung wäre, dass das Parlament dafür stimmt, die Austrittsvereinbarung unter der Bedingung anzunehmen, dass diese mit einem zweiten Referendum verknüpft wird. Auf den Stimmzetteln hätte man dann die Wahl, der Vereinbarung entweder zuzustimmen oder einfach in der EU zu verbleiben." Überzeugter Europäer zu sein, kann manchmal aber auch ganz schöne Probleme bereiten.

Wo bleibt der Widerstand?

"Ich bin ein 85-jähriger Europäer", lasen wir in der Wochenzeitung DIE ZEIT, "und lasse zu, dass heute Menschen im Mittelmeer ertrinken". Das sagte im Interview der deutsch-italienische Theatermacher Roberto Ciulli. "Widerstand macht sich schon bemerkbar, er hat sich nur noch nicht effektiv politisch organisiert", machte er uns dann auch ein wenig Hoffnung. "In uns existiert noch die Angst, als wir kleine Hominiden waren, die sich vor den großen Tieren fürchteten. Wir waren Beute! Das ist noch in uns. Aber wir müssen einen vertikalen Zeitbegriff entwickeln, der über die Gegenwart hinausgeht." Und das geht manchmal doch viel einfacher als mancher denken mag.
"Es gibt ein paar Werte, die für uns alle gelten, gelten müssen, wenn wir gemeinsam überleben wollen", sagte der Tageszeitung DIE WELT der Schriftsteller Durs Grünbein und erzählte dann, wie er im letzten Herbst in Berlin an der antirassistischen Demonstration unter dem Motto "Unteilbar" mitmachte. "Eine Demonstration wie keine andere. Eine Durchsage an das unbekannte Establishment. Nehmt uns endlich wahr! Ich habe die Sehnsucht Abertausender Menschen gesehen: nach Vernunft und Wahrheit und danach, Helligkeit ins Bewusstsein zu bringen, während in Europa die Frustration um sich greift." Demonstriert hat damals fast eine Viertelmillion Menschen. So viel Medienresonanz wie Pegida haben sie freilich nicht bekommen. Setzen wir hinter diesen Satz ein Ausrufungszeichen?
"Es kommuniziert eine gewisse Begeisterung oder Freude", erläuterte dieses Satzzeichen in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG der Medienlinguist Jannis Androutsopoulos. "Das Ausrufezeichen ist expressiv und färbt die Aussage mit den eigenen Gefühlen." Also dann vielleicht doch lieber drei Punkte hinter den Pegida-Satz? Jannis Androutsopoulos: "Das heißt, dass das Thema noch offen ist. Dass es noch Gesprächsbedarf gibt."
Unbedingt drei Punkte. Ausrufungszeichen!
Mehr zum Thema