Abschiede und Neuanfänge
Aufhören heißt: den Mut haben, eine Tür hinter sich zu schließen © IMAGO / Depositphotos / sebbam
Die Kunst des Aufhörens

Neuanfänge mögen wir, Aufhören fällt uns schwer. Dabei gehört beides zum Leben dazu. Warum Loslassen so schwer ist – und warum es sich lohnt, das Aufhören zu üben.
Am Ende des Jahres werden die Kalender geleert und Vorsätze geschmiedet: neue Hobbys oder Sprachen, eine neue Frisur, die Anmeldung im Fitnessstudio, eine neue Liebe. Neuanfänge sind beliebt. Von ihnen geht eine Kraft aus, weil sie nach vorn gerichtet sind.
Aufhören hingegen erinnert an Verlust, an Scheitern, an etwas, das nicht weitergeführt wird. Man hört auf zu rauchen, man hört seinen Job auf, weil man gekündigt wurde, Eltern sagen zu ihrem Kind: „Hör auf!“, wenn es das Geschwisterkind ärgert.
Dabei ist Aufhören wichtiger, als es auf den ersten Blick scheint – und es lohnt sich, es zu üben.
Inhalt
Was uns zum Aufhören bewegt
Etwas hinter sich zu lassen, kann unterschiedliche Auslöser haben: Unzufriedenheit, das Älterwerden, eine neue Liebesbeziehung oder eine berufliche Chance, die sich auftut.
Manchmal ist es auch ein schwerer Einschnitt, der Menschen aus dem Gewohnten reißt und zum Aufhören bewegt – etwa ein Herzinfarkt oder eine schwere Erkrankung. Plötzlich wird das eigene Leben infrage gestellt, Prioritäten verschieben sich. Manche hören auf zu trinken, andere ändern ihren Lebensstil oder verlassen einen Beruf, der sie krank gemacht hat.
Freiwilliges und gezwungenes Aufhören
Man kann zwischen freiwilligem und unfreiwilligem Aufhören unterscheiden. Die Ordensfrau und Autorin Melanie Wolfers kennt beide Seiten des Aufhörens nur zu gut. Nach einem Unfall musste sie als junge Studentin den Traum vom Querflötenstudium aufgeben. Es war ein aufgezwungenes Aufhören, ein Abschied, den sie lange betrauerte.
Später folgte ein anderes, selbst gewähltes Aufhören. Wolfers kündigte ihre Stelle als Hochschulseelsorgerin, ließ berufliche Sicherheit und Anerkennung zurück, zog von München nach Österreich und schloss sich einem Orden an. Sie hörte auf, obwohl es ihr dort, wo sie war, richtig gut ging. An ihrer Entscheidung zweifelte sie anfangs dennoch.
Wo etwas endet, wird oft mehr berührt als nur ein äußerer Rahmen. Beziehungen, Geld, Beruf, Erfolg – vieles, was Identität stützt, kann wegfallen. Im Aufhören liegt aber auch immer die Chance eines Neuanfangs. Für Wolfers war dieser Schritt rückblickend der richtige Weg.
Warum Aufhören gesund ist
Aufhören gehört zum Leben. Denn nicht alles kann und sollte einfach so weitergehen wie bisher. Deshalb raten Ärzte, Psychologinnen und Seelsorger dazu, sich regelmäßig bewusst Phasen des Aufhörens zu erlauben.
„Gesund im umfassenden Sinn wird der Mensch durch Aufhören. Dass er sich Phasen gönnt, wo mal nichts ist“, sagt auch der Münchner Theologe und Seelsorger Karl Kern. Aufhören versteht er nicht als kurzfristige Pause oder als weiteres Rezept zur Selbstoptimierung. Ihm gehe eher um eine tiefgreifende Veränderung der Haltung, um ein inneres Loslassen.
Heutzutage seien viele Menschen in dauernder Bewegung, innerlich wie äußerlich – nicht zuletzt durch das ständige Scrollen auf ihren Smartphones. Man sei angeregt durch Worte und Bilder, ständig beschäftigt, „im Rasen“. Viele Menschen lebten im Hamsterrad, strebten nach immer mehr. Der Sinn und die Richtung der eigenen Lebensbedingungen würden dabei immer unklarer.
„Und da hilft nur aufhören, aufhören, und zwar um das wesentliche Sein zu finden”, so Kern. Und verweist auf den spätmittelalterlichen Mystiker Meister Eckhart, der über Gelassenheit und inneres Loslassen schrieb.
„Für mich steckt dahinter eigentlich eine sehr tiefe Weisheit, die Meister Eckhart mal so formuliert hat: Die Menschen sollen nicht so viel nachdenken, was sie tun sollen, auch was sie lassen sollen. Sie sollen vielmehr bedenken, was sie sind“, so Kern. „Für mich ist Aufhören ein Weg zum wahren Selbst und damit ein Weg zum Glück.”
Warum das Aufhören oft schwerfällt
Doch das Aufhören und Loslassen fällt uns oft schwer – sei es eine langjährige Beziehung, an der wir krampfhaft festhalten, oder eine Arbeit, die wir nicht verlassen wollen. sind.
Sobald ein Abschied konkret wird, tauchen sie auf – „die Ängste und die Geister“, wie Melanie Wolfers sie nennt. Hinzu kämen warnende innere Stimmen und verinnerlichte Verbotewie “Sei gefällig!”, “Tanz nicht aus der Reihe!”, “Mach keinen Kummer!” Oder Glaubenssätze wie: Dazu habe ich kein Recht. Oder der skeptische Einwand: Da wird ja eh nichts daraus. All das will das Wagnis des Neuen verhindern.
Und dann ist da noch ein paradoxes Moment des Abschieds: In dem Augenblick, in dem etwas zu Ende geht, wird das Vertraute plötzlich besonders wertvoll. Viele Menschen sehnen sich nach Veränderung, aber kaum jemand will das Alte wirklich aufgeben. Das Bekannte gibt Sicherheit, das Neue hat noch keinen Weg. Wer aufhört, muss ihn sich erst bahnen.
Diese Angst vor der Ungewissheit bremst das Aufhören aus – besonders bei unfreiwilligen Abschieden nach Krankheit, Verlust oder Kündigung. Wenn etwas endet, das man mochte und als sinnvoll erlebt hat, ist der innere Widerstand groß. Gerade dann sei es wichtig, so Wolfers, nach innen zu schauen und auch belastende Gefühle zuzulassen. Erst dann können sie sich wandeln.
Wie das Aufhören gelingt
Jeder Mensch hat eine Art Kampfgeist. Vieles im Leben lässt sich laut Melanie Wolfers “erringen”: Beziehungen, Anerkennung, berufliche Erfolge. Doch jeder Mensch gerate irgendwann in Situationen, in denen etwas scheitert und nicht mehr zu retten ist.
Dann beginne, so Wolfers, ein anderer Kampf. Etwa wenn Eltern akzeptieren müssen, dass ihre erwachsene Tochter keinen Kontakt mehr will, trotz aller Bemühungen. In solchen Momenten gehe es nicht mehr darum, etwas zu gewinnen oder zu verändern, sondern darum, den eigenen Widerstand aufzugeben. Wolfers nennt das den letzten und entscheidenden Kampf: das Ringen mit sich selbst, das Ja-Sagen zu einem bitteren Schmerz.
Wer aufhört, gegen das Unveränderliche anzukämpfen, kann aus dem inneren Widerstand herausfinden. Erst dann, schreiben Wolfers und Knapp, könne eine neue Freiheit wachsen – und die Fähigkeit, trotz der belastenden Situation auch das Gute im eigenen Leben wieder wahrzunehmen.
Innere Freiheit durch Loslassen
Auch wer seine Lebensfreude, seinen Selbstwert und sein Identitätsgefühl fast ausschließlich an einen einzigen Bereich knüpft – zum Beispiel an den beruflichen Erfolg oder an die Anerkennung von außen –, macht sich laut Wolfers abhängig von etwas, das jederzeit wegbrechen kann.
Diese Säulen seien zerbrechlich und können abrupt enden. Wolfers rät deshalb dazu, das eigene Leben breiter aufzustellen und mehrere tragfähige Säulen zu pflegen, zum Beispiel verlässliche Beziehungen, die auch dann tragen, wenn andere Sicherheiten verloren gehen.
Für den Seelsorger Karl Kern bedeutet Aufhören weit mehr, als nur eine Aktivität zu stoppen. Es heiße wortwörtlich, wieder zu hören – auf sich selbst, auf andere, auf das Leben. Deshalb plädiert Kern dafür, das Aufhören einzuüben: täglich, als Ritual. Durch kleine Unterbrechungen, Pausen und Momente des Stilleseins. Als eine Art Gegenbewegung zum Immer-mehr.
Raunächte als Teil des Loslassens
Rituale wie die Raunächte können als Teil dieses Aufhörens gelesen werden. Diese Tage zwischen den Jahren sind traditionell keine Zeit für neue Pläne, sondern für Rückschau, Stille und das bewusste Loslassen des Vergangenen.
Vielleicht ist das die eigentliche Kunst des Aufhörens: nicht jedes Ende sofort in einen neuen Anfang zu verwandeln oder – gerade am Ende des Jahres – neue Pläne zu schmieden, sondern kurz stehen zu bleiben. Wahrzunehmen, was war. Und zu erkennen, was genug ist.
Feature: Burkhard Schäfers / Online-Text Elena Matera















