Auf der Suche nach Subjektivität

Rezensiert von Tobias Rapp |
Der Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte war stets am Ich interessiert, dem eigenen und dem der anderen. In seiner "Geschichte der Empfindlichkeit" spürte er dem eigenen Schaffen nach und mischte verschiedene literarische Darstellungsformen. "Die zweite Schuld" ist Teil dieses literarischen Mammutprojektes und umfasst Interviews mit Schriftstellerkollegen.
Der entscheidende Satz findet sich schon auf der zweiten Seite: "Ich bin für Ichs" schreibt Hubert Fichte, und es liest sich, als hätte er diese Worte nicht nur seinem Buch "Die zweite Schuld" voranstellen wollen. Es könnte auch ganz gut als Motto für das gesamte Werk des 1935 geborenen und 1986 verstorbenen Schriftstellers taugen.

Von seinen frühen Erkundungen in der Hamburger Gammlerszene der Sechziger und im Rotlichtmilieu von St. Pauli über die ethnologischen Studien in Afrika und im schwarzen Lateinamerika der Siebziger bis zu seinem großen Spätwerk "Die Geschichte der Empfindlichkeit" - es sind Subjektivitäten, die Fichte interessieren. Sein Ich und das der Anderen. Diesen verschiedenen Ichs ist er mit einer Hartnäckigkeit gefolgt wie kaum ein anderer.

Das Interesse und die Art und Weise, wie er dieses Ziel literarisch verfolgte, machen Hubert Fichte zu einer einigermaßen singulären Erscheinung der deutschen Nachkriegsliteratur. Und sie ziehen sich auch durch "Die zweite Schuld", jenes letzte Buch der "Geschichte der Empfindlichkeit", das nun herausgekommen ist, wegen des Schutzes einiger Persönlichkeitsrechte erst 20 Jahre nach seinem Tod.

"Die Geschichte der Empfindlichkeit" ist das Mammutprojekt, in dem Fichte in den späten Siebzigern sein ganzes bisheriges Schaffen noch einmal durcharbeitete und in 17 Bänden neu herausbrachte - Teile alter Bücher, die er neben alte Tagebucheintragungen stellte, mit Radio-Featuretexten vermischte und um unveröffentlichte Notizen erweiterte. Von seiner Kindheit in Hamburg über die Entdeckung der Homosexualität und seine Ehe mit der
Fotografin Leonore Mau, seine Reisen und seine Gespräche - es ist der Roman eines Lebens, der hier aufgefächert wird.

"Die zweite Schuld" setzt dabei recht früh ein: Es ist das Jahr 1963 und Fichte ist gemeinsam mit einer Reihe anderer Nachwuchsautorinnen und -autoren im Literarischen Colloquium Berlin eingeladen, um einige Monate lang gemeinsam zu schreiben, Vorträge von älteren Kollegen zu hören oder Werkstattgespräche zu führen (der Gemeinschaftsroman "Das Gästehaus" ist ein Resultat dieses Treffens). Entstanden ist das Buch aber 1978/79, nachdem Fichte seine alten LCB-Kollegen noch einmal aufgesucht hatte, um sie in ausführlichen Interviews zu befragen.

Gerade vor dem Hintergrund des in den vergangenen Wochen durch die deutschen Feuilletons tobenden Streits, ob die richtige Literaturkritik sich besser auf die Leidenschaft oder den Begriff zu verlassen habe, ist das eine interessante Lektüre. Denn Fichte möchte etwas ganz anderes wissen: Etwa welche Schriftsteller sich durchsetzen und welche nicht, wie Hackordnungen funktionieren. Mit Autoren wie Joachim Neugröschel oder Elfriede Gerstl spricht er, auch um herauszufinden, was aus ihnen geworden ist und warum. Und ob es auch einen anderen Weg aus dem Gästehaus gegeben hätte. Gut ein Drittel des Buchs nimmt ein Gespräch mit Walter Höllerer ein, dem damaligen Leiter des LCB.

Allein für sich genommen, dürfte dieses Buch den Leser manchmal in der Luft hängen lassen - wen interessieren schon die Vorgänge in einem Literaturhaus 1963? Als Teil der monumentalen Selbstbesichtigung, die Fichte am Ende seines Lebens unternimmt und die ihn im Nachhinein als einen der modernsten und als einen wegweisenden Autor jener Zeit dastehen lassen - "queer", bevor es den Begriff gibt, am postkolonialen Denken interessiert, lange bevor dieses in Deutschland ankommt -, ist es essentiell.


Hubert Fichte: Die zweite Schuld
Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2006
340 S., 22.90
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