Forscherin im Zauberreich

Von Jochen Stöckmann |
Leonore Mau und der Schriftsteller Hubert Fichte unternahmen mehrere gemeinsame Reisen, bei denen sie ethnologische Studien betrieben - auf ihre Art. Mau gelangen dabei Aufnahmen von geheimen Kulten und Riten, Fichte verarbeitete seine Eindrücke als "Ethnopoesie". In den Deichtorhallen sind nun 250 Fotos von Mau sowie Manuskripte Fichtes zu sehen.
Porträts sind etwas für Leute mit zu kurz gekommener Erinnerung, spottete eine Salondame des 18. Jahrhunderts. Unsinn, widerspricht Wilfried F. Schoeller - und demonstriert, wie weit sich die Porträtkunst im 20. Jahrhundert entwickelt hat: Im Zusammenspiel von Literatur und Fotografie, mit einer Lichtbildnerin an der Seite des Schriftstellers Hubert Fichte.

Wilfried F. Schoeller: "Der hat sich aus seinem Außenseitertum als Halbjude, als Homosexueller befreit, gelöst, indem er in diese anderen Verhältnisse eingetaucht ist. Und sie ist diesen Weg mitgegangen. Welche Beschwernis das bedeutet hat für eine Frau, für eine Fotografin, kann man einer großen Fahne entnehmen, einer Litanei von Hubert Fichte, da sagt er am Schluss "diese Fotografin ist Leonore Mau"."

Leonore Mau, die ausgebildete Pressefotografin, illustriert nicht einfach einzelne Bücher, liefert keine pittoresken Bilder vom Hamburger Kiez oder von den gemeinsamen Expeditionen durch Elendsviertel und Urwälder Afrikas und Lateinamerikas. In mehr als 250 Aufnahmen lässt sich stattdessen die ausufernde, über viele Neben- und Umwege führende Entstehung von Fichtes 19-bändiger "Geschichte der Empfindlichkeit" verfolgen. Das Porträt vom bekennenden Schwulen Jean Genet, der als vereinsamtes und zugleich störrisches Monument seiner selbst auf dem Pariser Hotel-Balkon steht, dann auch die Aufnahme von Fichte im Gespräch mit dem afrikanischen Schriftsteller und Politiker Leopold Senghor - auf dem Tisch zwischen den beiden ein Tonband - diese Bilder kennzeichnen die literarische Praxis eines Weltreisenden, der sich weit über den bloßen Reiz des Fremden hinauswagte.

Wilfried F. Schoeller: "Die Frage nämlich, wie kann ich mich mit journalistischer Neugier, dem Blick eines Voyeurs, der Leidenschaft für soziale Verhältnisse, dem Interesse für fremde Kulte, wie kann ich mich damit einer fremden Welt nähern, ohne Imperator zu sein, sozusagen Sitzethnologe, der alles der Theorie unterwerfen kann."

Stattdessen betrieben beide, Autor und Fotografin, ein ernstes, wohl auch bitterbös-ironisches Spiel der Masken, eine Zergliederung und auch das Ineinanderfließen des Ichs: Leonore Mau porträtiert sich selbst im Spiegel, daneben liegt ein Foto von Hubert Fichte.

Wilfried F. Schoeller: "Er hat sich Namen zugelegt, das sind Spiegelfiguren. Und sie solche Leute - es gibt da eine Sekte in Venezuela - fotografiert, das sind die Spiegelmänner, die mit Masken durch die Gegend ziehen."
Da ahnt man schon etwas von jenen Voodoo-Kulten, auch von den heidnischen Ritualen Brasiliens, die zur Obsession Fichtes werden sollten. Und so steht inmitten der musealen Bildwände und Vitrinen ein veritabler Candomblé-Altar, eine von barocker Fülle überquellende Installation, deren Bedeutung der Ethnologe Tiago de Oliveira Pinto entschlüsselt.

Tiago de Oliveira Pinto: "Die Leute sehen eine Figur die europäisch anmutet, der Heilige Georg. Aber sie sagen, das ist Ochossy, der Jagd- und Waldgott. Also, das, was man erblickt und das, was man sieht müssen nicht unbedingt identische Dinge sein."

"Ein Gesicht haben", "etwas erschauen" - das hat auch im deutschen Sprachgebrauch eine mystische Bedeutung, verweist darauf, daß im
Reich der Götter und Geister, der Trance und der Magie die fotografische Porträtkunst ihr Ziel verfehlen muss. Die Rituale lassen sich wohl abbilden, ihr geheimer Sinn aber ist allenfalls zu umschreiben. Doch Leonore Mau gelingt es, etwa mit dem Bild eines schwarzen Knaben, der sich die durchlöcherte Silberfolie einer Tablettenpackung vors Gesicht hält, dem Mysterium näher zu kommen. Und Hubert Fichtes Texte bewirken noch viel mehr.

Tiago de Oliveira Pinto: "Ich als junger brasilianischer Ethnologe habe beim ersten Mal sehr irritiert auf das Werk von Hubert Fichte reagiert. Mir fiel sein Buch in die Hände, in dem wirklich alles anders, alles umgedreht wurde, was wir noch an der Akademie, an der Universität als gute ethnographische Arbeit eingetrichtert bekamen."

Selbst zu den geheimsten Kulthandlungen verschaffen sich die Fremden Zutritt, und das erklärt sich Wilfried F. Schoeller so:

"Es ist keine Paparazzihaltung der beiden, mit großer Geduld sind die Sachen aufgenommen. Die beiden haben nie versucht, klammheimlich zu fotografieren. Und es ist dann schon eindrucksvoll zu sehen, wie sie an die geheimsten Teile herankommen von Kulten wie zum Beispiel dem Blutbad."

Diese tiefgreifenden, spirituellen wie auch politischen Erfahrungen des leidenschaftlichen, durch kein akademisches Studium verbildeten Ethnologen bringen wiederum ein ganz besonderes Repertoire an literarischen Formen hervor.

Wilfried F. Schoeller: "Das Gespräch, die journalistische Reportage, den Erfahrungsbericht, die poetische Anrufung, dieses grandiose, bis zum Sprachexperiment reichende Instrumentarium stellt eine Herausforderung dar, die für heutige Schriftsteller ganz großartig ist."

In der heutigen Ära der talking heads, der Autoren, die den Verkauf ihrer Bücher mit dem medienwirksamen Vorzeigen des Gesichts befördern, ist denn auch kaum mehr vorstellbar, was Schoeller als Literaturredakteur erlebte:

"Hubert Fichte hat verlangt dass er das nicht mehr alleine macht sondern mit einer Puppe. Und er hat sich immer wieder hinter dieser Puppe versteckt und ist wieder hinter ihr hervorgetreten. Es war übrigens sein letztes Fernseh-Interview, das er gegeben hat: Er wollte mit seinem Gesicht nicht mehr auftreten."

Dafür wird der 1986 verstorbene Schriftsteller jetzt auf seine Weise porträtiert – in seinem Werk, mit Briefen und Beigaben, mit Hörproben zahlreicher Radiofeatures und Filmausschnitten, mit handgezeichneten Bauplänen für die monumentale Geschichte der Empfindlichkeit, mit Fotos von Leonore Mau, durch Hubert Fichtes Gesicht schimmert - auch wenn er selber nicht zu sehen ist.

Service:
Die Ausstellung "Hubert Fichte und Leonore Mau - eine Lebensreise" bis zum 8. Januar in den Hamburger Deichtorhallen zu sehen.