Auf der Suche nach einem geeigneten Feind

Rezensiert von Alexander Schuller · 05.07.2009
In seinem jetzt auf Deutsch erschienenen Buch "Menschenrauch" dokumentiert der US-amerikanische Autor Nicholson Baker die oft wirre Suche der Westmächte nach dem besten Feind für einen Weltkrieg. Baker zeigt Churchill als leidenschaftlichen Kriegstreiber und Roosevelt als intellektuell überforderten Schlaumeier.
Wir Deutsche haben aus unserer Geschichte gelernt. Gerne zeigen wir anderen die Gedenkstätten unserer Schandtaten. Das ist einmalig. Wir verfügen nicht nur über eine Ästhetik, sondern auch über eine Ethik des Grauens. Auch das ist einmalig. Mit unserer Schuld – mit unserem Schuldbewusstsein – kann keiner mithalten.

Da muss es uns verwirren, dass immer neue Publikationen in der englischsprachigen Wissenschaft uns unser Geschichtsbild streitig machen. Es sei alles viel komplizierter, heißt es. Den Ersten Weltkrieg hätten mit ihrer Umzingelungspolitik vor allem Franzosen und Engländer herbeigeführt. Versailles sei der Boden, auf dem sowohl der Kommunismus als auch der Faschismus als auch der Zweite Weltkrieg entstehen konnten. Die 14 Punkte des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson hätten nicht Befreiung und Befriedung der europäischen Völker geschaffen, sondern Rassenhass und Völkermord. Einige Autoren bezweifeln sogar, dass das Bündnis der Westmächte mit der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg dem Weltfrieden gedient habe. Wir als Deutsche wissen, dass das absurd ist und äußerst gefährlich, aber die Publikationen sind da, die Fakten, die Argumente.

Das jetzt auch auf Deutsch erschienene Buch "Menschenrauch" von Nicholson Baker bedroht die nach dem Krieg entwickelte politische Identität der Deutschen in besonders perfider Weise. Es argumentiert nämlich nicht - es belegt. Es verfügt über eine ausführliche Bibliographie, einen Quellennachweis und ein umfangreiches Personen- und Sachregister. Akribisch, wie Walter Kempowski im Echolot, montiert Baker Dokumente, Nachrichten, Briefe, Gesprächsfetzen, Protokolle. Mit diesem dokumentarischen Verfahren erfasst Baker die oft wirre Suche der Westmächte nach dem besten Feind für den nächsten Weltkrieg. Roosevelt, vor allem aber Churchill betrachteten die Sowjetunion offenbar lange Zeit als idealen Feind und Hitler und Mussolini als ideale Partner. Im Januar 1927 schreibt Churchill an Mussolini:

"Wäre ich Italiener, so hätte ich vollen Herzens von Anfang bis Ende Ihres siegreichen Kampfes gegen die gemeinen Gelüste und Begierden des Leninismus an Ihrer Seite gestanden."

Baker macht deutlich, dass Churchill euphorisch von einem Zweiten Weltkrieg träumte. Er schreibt im März 1929:

"Der Tod steht bereit, gehorsam, ungeduldig, dienstwillig, bereit die Völker in Massen niederzumähen, bereit, wenn aufgefordert, ohne Hoffnung auf Wiedergutmachung all das zu zermalmen, was von unserer Zivilisation verblieben ist. Er wartet nur auf das Kommando."

Churchill taumelt zwischen einer unterwürfigen Angst vor den Sowjets und einem eliminatorischen Hass auf die Deutschen. Dabei entfesselt er geradezu faschistische Phantasien. Lange vor Auschwitz und lange vor Dresden erklärt Churchill, bezogen auf die Deutschen und den Ersten Weltkrieg:

"Extrem giftiges Gas hätte jeden Widerstand beendet. Tausende von Flugzeugen hätten ihre Städte zerstört."

Offenbar hatte Churchill keine Lust, über den Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus nachzudenken. Mal sollten die Kommunisten gegen die Faschisten, dann wieder die Faschisten gegen die Kommunisten in Stellung gebracht werden. Allesamt waren sie Feinde des Empire und insofern für Churchill austauschbar. Darin war er typisch für die Westmächte insgesamt. Noch 1938, nach Bücherverbrennung und Arier-Gesetzen, meinte der amerikanische Senator Burke, dass Hitler "dem Wohl des ganzen Deutschen Volkes" diene.

Dass die Westmächte sich schließlich für die Koalition mit den Russen und gegen die Deutschen entschieden, ist eigentlich Zufall. Der Vertrag von München, noch im Herbst 1938 geschlossen, war als Bündnis zwischen Frankreich, England und Deutschland gegen die Sowjetunion gedacht. Baker meint, dass der Zweite Weltkrieg - der blutigste Krieg aller Zeiten – vor allem dem Spieltrieb des kriegswütigen Winston Churchill zu verdanken sei. In dieser Meinung wird Baker unterstützt von einer Vielzahl englischsprachiger Wissenschaftler. Der US-amerikanische Autor Patrick Buchanan etwa spricht von einem unnötigen Krieg, der Brite Allan Clark von einem Selbstmord des englischen Empire, der Brite John Charmley sieht Churchill als Kindskopf. Diese und andere Autoren sind sich, bei allen Unterschieden, darin einig, dass die beiden Weltkriege von strategischen Dilettanten geführt wurden. Auch Baker zeigt, wie wenig sich sowohl die Westmächte als auch Hitler über die Interessen ihrer Gegner und ihrer Partner im Klaren waren. Selbst ihre eigenen Interessen hätten sie durch eine ideologische Brille verzerrt wahrgenommen. Baker präsentiert Churchill als leidenschaftlichen Kriegstreiber, Roosevelt als intellektuell überforderten Schlaumeier. Das Beste, was Baker von diesen Rettern des Abendlandes sagen kann, ist, dass sie es nicht so gemeint hätten. Nur Stalin scheint aus seinen anfänglichen Fehlern schnell und konsequent gelernt zu haben. Das bekommen wir noch heute zu spüren.

"Wer den Krieg verliert, der verliert auch seine Würde", lautet ein berühmter Satz des Schweizer Historikers Jacob Burckhardt. Die Parole der Deutschen nach 1945 hieß denn auch: nie wieder Subjekt sein, nur noch Objekt, Ikone von Schuld und Schande. Als freier Mensch kann aber nur gelten, wer die Herrschaft über seine Geschichte besitzt. Auch das ist eine Lektion von Nicholson Bakers Geschichtsmontage.

Nicholson Baker: Menschenrauch - Wie der Zweite Weltkrieg begann und die Zivilisation endete
Rowohlt Verlag, Reinbek 2009
576 Seiten, 24,90 Euro
Nicholson Baker: Menschenrauch
Nicholson Baker: Menschenrauch© Rowohlt Verlag