Auf der Suche nach den Ursachen von Krieg und Gewalt in Jugoslawien

26.04.2012
In seinem Buch macht der Berliner Historiker Holm Sundhausens die konkurrierenden politischen und intellektuellen Eliten in den verschiedenen Landesteilen für den Untergang des sozialistischen Jugoslawiens und die sich anschließenden Kriege verantwortlich.
Zum Scheitern des von Titos Partisanen 1943 im bosnischen Jajce gegründeten Jugoslawien gibt es eine Vielzahl von Thesen. Eine von ihnen lautet, ein ethnisch, politisch und sozial derart vielschichtiger Staat habe auf Dauer keine Überlebenschancen gehabt. Er sei nur durch die Führerfigur Tito zusammengehalten worden. Andere sehen uralte balkanische Gewalttraditionen am Werk, wieder andere wittern eine Verschwörung der Großmächte gegen den Zusammenhalt Jugoslawiens oder machen das Wirtschaftsdesaster samt Hyperinflation in den 1980er-Jahren für den Zerfall verantwortlich.

In seiner jetzt im Böhlau Verlag erschienenen Geschichte Jugoslawiens und seiner Nachfolgerstaaten von 1943 bis 2011 widerspricht der Berliner Historiker Holm Sundhaussen solchen Thesen und entwickelt eine andere Argumentationslinie. Sundhaussen macht die konkurrierenden politischen und intellektuellen Eliten in den verschiedenen Landesteilen für den Untergang des Staats und die sich anschließenden Kriege verantwortlich.

Während Titos Jugoslawien von seinen Anfängen bis fast zum Ende von der Mehrheit der Bevölkerung in allen Teilstaaten akzeptiert worden sei, hätten Demagogen zunächst in Serbien, später auch andernorts an der Demontage gearbeitet – mit einer auf die eigene kollektive Opferrolle zugeschnittenen nationalistischen Rhetorik. Der Umstand, dass keine staatliche Institution – etwa unter Anwendung des damals bestehenden Straftatbestands der Volksverhetzung – die Chauvinisten an ihrem Tun gehindert habe, bildet für Sundhaussen einen Schlüssel zum Verständnis des Desasters.

In seiner "Ungewöhnlichen Geschichte des Gewöhnlichen" reflektiert Sundhaussen immer wieder die Ursachen von Krieg und Gewalt und leistet sich dabei ausgedehnte Exkurse. Vor allem aber erzählt er, gestützt auf eine breite Auswahl aktueller Forschungsliteratur, die Geschichte des sozialistischen Jugoslawien und seiner ideologisch gewendeten Nachfolger in allen wichtigen Details.

Er erläutert, warum die Bevölkerung einer Neugründung Jugoslawiens unter kommunistischer Führung zustimmend gegenüberstand und welche Entwicklung der Tito-Staat nach dem Bruch mit Stalin 1948 nahm. Er beschreibt die Arbeiterselbstverwaltung in ihren Vorzügen und Nachteilen, die Bildungsrevolution, den beträchtlichen Wohlstand der 1960er und 70er-Jahre sowie die danach einsetzende politische und wirtschaftliche Dauerkrise.

Ein Loblied auf das sozialistische Jugoslawien wird hier nicht gesungen. Dennoch: Die Bilanz der Nachfolgestaaten erscheint Sundhaussen im Vergleich düster. Keiner dieser Staaten, so das Fazit, könne auf sich gestellt die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bestehen. Auch das Urteil über die Politik der Internationalen Gemeinschaft fällt vernichtend aus, selbst wenn Sundhaussen den Großmächten keine Mitschuld an der Entfesselung der Jugoslawienkriege zuschreibt.

"Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011" ist ein kenntnisreiches, spannend geschriebenes Buch, das Idee und Wirklichkeit des sozialistischen Jugoslawien weder idealisiert noch verteufelt, während es den heutigen Verhältnissen in der Region mit großer Skepsis begegnet

Besprochen von Martin Sander

Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943–2011. Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen
Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar
567 Seiten, 59,00 Euro
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