Erinnerungskultur im früheren Jugoslawien

10.06.2010
Der Belgrader Soziologe Todor Kuljic untersucht in "Umkämpfte Vergangenheiten", wie die Erinnerungskultur im früheren Jugoslawien neu geordnet wurde - von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Politikern und anderen Akteuren.
Geradezu über Nacht vollzogen jugoslawische Historiker Anfang der Neunzigerjahre eine radikale Wende in der Bewertung des Tito-Staats. Am Tag vor der Wende sprachen sie noch von einem erfolgreichen System. Am Tag darauf behaupteten sie bereits, der Zusammenbruch dieses Systems sei unvermeidbar und seit Langem vorhersehbar gewesen.

So spitzt der Belgrader Soziologe ein zweifellos merkwürdiges Phänomen zu, dessen Hintergründe er in seinem knapp 190 Seiten umfassenden Essay unter dem Titel "Umkämpfte Vergangenheiten" ausleuchtet. Kuljics jetzt im Verbrecher Verlag auf Deutsch erschienenes Buch handelt davon, wie die Erinnerungskultur des vormals jugoslawischen, heute in zahlreiche Nationalstaaten geteilten Raums neu geordnet wurde - von Wissenschaftlern, Schriftstellern, Politikern und anderen Akteuren.

Kuljic beschreibt Themen und Konflikte der geschichtspolitischen Neuorientierung: Während Makedonien mit Griechenland um das wahre Erbe von Alexander dem Großen streitet, zelebriert Slowenien ein angeblich in Urzeiten gewonnenes europäisches Selbstverständnis abseits des Balkans. Die härtesten Kämpfe um die Erinnerung werden in den Ländern der ehemaligen, längst aufgelösten serbokroatischen Sprachgemeinschaft ausgefochten, in Serbien, Montenegro, Kroatien und Bosnien-Herzegowina.

Es geht um die Rehabilitierung eines serbischen Nazikollaborateurs durch seine Landsleute; um die Frage, ob die mittelalterlichen Herrscher Bosniens Bosnier, Kroaten oder Serben waren; um die Bewertung des von Tito veranlassten Massakers im österreichischen Bleiburg, bei dem nach Ende des Zweiten Weltkriegs Tausende von kroatischen Ustascha-Faschisten, aber auch viele Unschuldige ums Leben kamen. Kuljic zeichnet ein äußerst vielschichtiges Gesamtbild, das immer noch in Bewegung ist.

Methodisch unterscheidet der Autor die Geschichtsbilder der neuen kulturellen und politischen Eliten von den nicht selten abweichenden Vorstellungen in den einzelnen Bevölkerungen des ehemals gemeinsamen Staates. Gerade innerhalb dieser Bevölkerungen wird zum Beispiel die politische Leistung von Josip Broz Tito bis heute besser beurteilt als durch die Eliten.

Todor Kuljic, der sich als kritischer Marxist versteht, stützt sich in seinem Essay zur Erinnerungspolitik im ehemaligen Jugoslawien auf die Thesen des Historikers Eric Hobsbawm von der Erfindung der oft als natürlich empfundenen nationalen Traditionen. Seine Methode leuchtet ein – andererseits ist Kuljic nicht frei von ideologischen Vorurteilen: etwa wenn er behauptet, Nationalismus sei ohne Kapitalismus nicht denkbar.

Damit ignoriert Kuljic das in den Ländern des realen Sozialismus - nicht zuletzt im Serbien des Sozialisten Milošević - zur Herrschaftssicherung überaus konsequent benutzte Instrument des Nationalismus. Dass Kuljics akademischer Essay in deutscher Übersetzung erscheint, ist dennoch ein Verdienst, weil er einen genauen Blick auf die geistigen Kontroversen bei den Versuchen einer Renationalisierung im ehemaligen Jugoslawien wirft.

Besprochen von Martin Sander

Todor Kuljic: Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugoslawischen Raum
ins Deutsche übertragen von Margit Jugo und Sonja Vogel, Verbrecher Verlag, 192 Seiten, 28 Euro