Auf der Straße

Von Florian Elsemüller · 21.01.2013
Temperaturen im Minusbereich: Für Obdachlose, die auf der Straße schlafen, ist dies eine besonders harte Zeit. Obwohl Kältebusse unterwegs sind und Notunterkünfte ein Bett anbieten, bleiben viele Wohnungslose lieber draußen. Eine von ihnen ist die 16-jährige Sally aus Freiburg.
Ihre Freunde nennen sie Sally. Sie ist 16 Jahre alt, hat ihre Haare rot gefärbt und sie lebt an einem faszinierenden Ort: Es ist der Pfeiler einer Brücke. Von außen wirkt er, wie ein riesiger massiver Betonblock. Doch von innen ist er hohl. Sally steigt durch eine Luke ein.

"Ja, wir können ja kurz hier zeigen. Es sind ganz viele Matratzen hier auf der Seite da, bis nach da oben. - im Hintergrund: Können wir die Lucke wieder zu machen?"

Das einzige Licht kommt von Kerzen. Sieben junge Menschen leben hier zurzeit. Matratzen, darauf Schlafsäcke und ein heißer Grog, der hält warm für die Nacht. Die Wände sind aus kargem Beton. Es ist ein langer dunkler Schlauch, wie ein Tunnel, wie ein Luftschutzbunker.

"Hier muss man ein bisschen aufpassen: Hier wird die Decke niedrig."

Neben der Luke steht ein Bücherregal. Gegenüber an der Betonwand hängen Poster mit nackten Frauen. Außer Sally leben hier nur Jungs. Drei von Ihnen sind gerade im Brückenpfeiler: Einer liegt auf seiner Matratze, die beiden anderen stehen zusammen mit Sally in der Mitte des dunklen Raums. Ein tiefes Grollen dröhnt wieder mit viel Bass durch die Decke. Das sind die Autos über ihren Köpfen.

"Aber von den Autos merkt man nicht so viel, das schaltet man ab. Die ersten zwei Nächte, wo wir hier geschlafen haben, da haben wir's noch gemerkt. - Jeden Tag fahren tausende von Autos über uns, und trotzdem sind wir noch nicht tot. - Ich glaub, wir sind untot. - Wahrscheinlich. - Ich glaub, so sieht uns auch die Gesellschaft. - Ja. - Ja."

Sie haben das Vertrauen verloren, zur Familie, zum Jugendamt und zu anderen Behörden. Viele sind mit ihren Eltern zerstritten. So war es auch bei Sally.

"Ist halt irgendwie eskaliert. Ich weiß auch nicht genau, warum. Ist halt eskaliert. Und dann ist es halt so gelaufen."

Immer wenn sie zuhause war, hat sich Sally mit ihren Eltern gestritten, ohne Pause. Ihr Vater hat sie angeschrien, beschimpft, beleidigt. Das hat Sally wehgetan. Sie hat dagegen gehalten. Er hat sie rausgeschmissen. Jetzt kann sie wiederkommen, sagen ihre Eltern - aber Sally will nicht mehr. Stattdessen lebt sie lieber in einem Brückenpfeiler. Nur mit Jungs, aber auch hier braucht sie manchmal ihre Ruhe.

"Ja, keine Ahnung, ich trag meinen Rucksack meistens mit mir rum. Und jetzt war ich die letzten paar Tagen auch immer wieder irgendwo anders."

Sally will flexibel sein und jeden Abend entscheiden können, wo sie schläft. Sie läuft einen Kilometer flussabwärts, zusammen mit ihrem Kumpel Heinzi. Sie kennen sich seit einem halben Jahr. Er ist 19 Jahre alt und lebt seit er 16 ist auf der Straße. Heinzi nimmt eine Cola-Dose vom Boden. Damit verdient er sein Geld.

"Ein Aschenbecher wird's halt. Deckel abschneiden, dann gerade nach unten schneiden in gleichmäßigen Streifen und dann werden die mit einer speziellen Falttechnik ineinander gesteckt."

Er verarbeitet andere Dosen zu Teelichthaltern. Die verkauft er auf der Straße, neben dem Weihnachtsmarkt. 30 Euro, manchmal 50 Euro verdient er am Tag. Sally und Heinzi kommen zu einer Brücke. Die Matratzen liegen hier nicht in einem Brückenpfeiler, sondern - ganz gewöhnlich - unter der Brücke, direkt am Fluss. Hier hat Sally ihr eigenes Lager aufgebaut, ihre Platte, wie Obdachlose sagen.

"Da haben wir so einen Pappkarton hingestellt, dass es so ein bisschen abgegrenzt ist, und Matratzen halt und einen Tisch."

Manchmal schläft sie hier zusammen mit Heinzi, oft aber alleine. Im Schlafsack hat sie ein Messer, für den Fall, dass Fremde nachts unter die Brücke kommen. Immer wieder werden Obdachlose in Freiburg angegriffen. Neben ihr fließt die Dreisam. Der Fluss ist laut, die Luft fünf Grad kalt.

"Man merkt halt schon, vor allem wenn's kalt wird, dass die Dreisam wahnsinnig viel Feuchtigkeit in die Luft spendet. Ich hab hier nur zwei oder drei Nächte geschlafen, und das sofort im Hals gemerkt."

Die Kälte kriecht durch die Kleidung, sticht bis auf die Knochen. Zuhause aber, sagt sie, war es noch schlimmer. Manche Jugendliche kommen auf die Platte, allerdings nur am Wochenende, oder im Sommer - wenn die Lust nach Freiheit keinen so hohen Preis hat. Im Winter sind sie alle wieder zuhause: Eine Nacht bei Minusgraden in der feuchten Luft am Fluss ist kein Spiel. Das macht keiner, der eine bessere Option hat. Sally will auch im Winter nicht nach Hause. Und sie weiß auch sonst keine Alternative.

"Bei mir ist es halt noch mal speziell, weil ich minderjährig bin; ist halt scheiße. Weil eine eigene Wohnung, das geht nur mit Elterneinverständniserklärung. Außerdem kommt das für mich eh nicht in Frage, denn ich hab überhaupt keine Lust auf eine eigene Wohnung, und auf betreutes Wohnen, oder Pflegefamilie, oder so was, hab ich auch keine Lust, und deshalb bleibe ich halt draußen."

Für Sally kommen auch die Notunterkünfte für Obdachlose nicht infrage. Dort gibt es strenge Regeln und alte Obdachlose, die die Hoffnung im Leben schon aufgegeben haben. Und das ist weniger attraktiv als das freie Leben auf der Straße.

"Weil ich mich nicht so einschränken lassen will in meinen Freiheiten, deshalb bin ich auf der Straße eigentlich. Das ist sozusagen das freiheitsmäßig Größte, was ich machen kann momentan. Und deshalb bin ich draußen."

Sally hat sich freiwillig für ein Leben auf der Straße entschieden. Sie ist seit einem halben Jahr obdachlos und sie will auf der Straße bleiben.
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