Auf der Spuren seiner Familie
Edmund de Waal forscht in "Der Hase mit den Bernsteinaugen" seinen Vorfahren nach - er entstammt den Ephrussis, eine jüdischen Bankiers- und Kaufmannsdynastie. Er lässt die verschiedenen Generationen der Familie wieder lebendig werden. Lesenswert.
Ein "Erinnerungsbuch" nennt der Verlag diesen Band, der weder historisches Fachbuch noch Biografie ist, auch kein Roman. Es ist die Geschichte von einem, der einer Geschichte nachspürt und dabei der Geschichte auf den Grund geht. Dazu - und das macht den Reiz, den Charme und den literarischen Wert der Erzählung aus - muss er erst einmal herausfinden, wie das eigentlich geht, wie man sich der Vergangenheit annähert, sich ihr stellt und, das ist dann die hohe Kunst, in manchen Momenten ausliefert.
Der titelgebende bernsteinäugige Hase ist Teil einer wertvollen Sammlung sogenannter Netsuke, japanischer Miniaturfiguren aus Holz oder Elfenbein. Der Keramiker Edmund de Waal hat die Netsuke von einem Onkel geerbt. Er macht sich daran, die Geschichte der Sammlung zu erzählen. Die Netsuke sind wie eine Flaschenpost, die die Geschichte seiner Familie, der jüdischen Bankiers- und Kaufmannsdynastie Ephrussi, im 19. und 20. Jahrhundert in Odessa, dann in Paris, schließlich in Wien birgt. Es ist die Geschichte Europas, erzählt von einem Logenplatz, aus der Beletage.
Die Ephrussi leben in einem riesigen Palais in der Nähe des Arc de Triomphe oder am Wiener Ring. Sie fördern Manet und Renoir und kaufen Netsuke, wenn sie teuer sind. Ein Ephrussi diente Proust als Vorbild für die Figur des Swann in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", eine Großtante Freud als Fallbeispiel in den "Studien über Hysterie". De Waals Großmutter korrespondierte mit Rilke, auch in Joseph Roths "Radetzkymarsch" kommen die Ephrussi vor.
Edmund de Waal fühlt sich ein. Er versucht, so zu sehen, wie einer sieht, der ein bestimmtes Bild kauft. Oder er fragt sich, was sein Vorfahr an einer Frau, einem Haus, einer Bemerkung fasziniert haben mochte. Das, glaubt de Waal, sind die Dinge, von denen man erzählen kann. Vor unseren Augen übt er, probiert aus, lernt. Ein ungewöhnliches Projekt. Ein Experiment. Und es geht auf.
Überraschend lebendig werden so die verschiedenen Generationen in ihren Lebenswelten. Und regelrecht mit dabei sind wir, wenn die Geschichte als Schicksal zuschlägt. Oft ist es die Geschichte des Antisemitismus, erst in Form "spinnwebdünner Fädchen von Zurückweisung", schließlich, in den stärksten Passagen des Buchs, während des so genannten Anschlusses Österreichs und der folgenden Enteignung jüdischen Besitzes. "Das Geräusch zerbrechender Gegenstände ist die Belohnung für eine lange Wartezeit. Diese Nacht ist voll solcher Belohnungen", heißt es da, und: "Es ist das seltsame Auflösen einer Sammlung, eines Hauses, einer Familie."
Manchmal verspürt de Waal "eine idiotische Wut". Manche Episoden verfolgen ihn, greifen ihn an oder erschöpfen ihn. Für ihn, den Keramiker, sind auch Geschichten Dinge. Sie werden geformt, haben ein Material, eine Oberfläche, einen Charakter. Die Netsuke sind beides, Objekte und Geschichten. Zumindest sind sie das für Edmund de Waal. Und für die Zeit der Lektüre dieses lesenswerten Buchs auch für uns.
Besprochen von Hans von Trotha
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen.
Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer,
Zsolnay Verlag, Wien 2011
352 Seiten, 19,90 Euro
Der titelgebende bernsteinäugige Hase ist Teil einer wertvollen Sammlung sogenannter Netsuke, japanischer Miniaturfiguren aus Holz oder Elfenbein. Der Keramiker Edmund de Waal hat die Netsuke von einem Onkel geerbt. Er macht sich daran, die Geschichte der Sammlung zu erzählen. Die Netsuke sind wie eine Flaschenpost, die die Geschichte seiner Familie, der jüdischen Bankiers- und Kaufmannsdynastie Ephrussi, im 19. und 20. Jahrhundert in Odessa, dann in Paris, schließlich in Wien birgt. Es ist die Geschichte Europas, erzählt von einem Logenplatz, aus der Beletage.
Die Ephrussi leben in einem riesigen Palais in der Nähe des Arc de Triomphe oder am Wiener Ring. Sie fördern Manet und Renoir und kaufen Netsuke, wenn sie teuer sind. Ein Ephrussi diente Proust als Vorbild für die Figur des Swann in "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", eine Großtante Freud als Fallbeispiel in den "Studien über Hysterie". De Waals Großmutter korrespondierte mit Rilke, auch in Joseph Roths "Radetzkymarsch" kommen die Ephrussi vor.
Edmund de Waal fühlt sich ein. Er versucht, so zu sehen, wie einer sieht, der ein bestimmtes Bild kauft. Oder er fragt sich, was sein Vorfahr an einer Frau, einem Haus, einer Bemerkung fasziniert haben mochte. Das, glaubt de Waal, sind die Dinge, von denen man erzählen kann. Vor unseren Augen übt er, probiert aus, lernt. Ein ungewöhnliches Projekt. Ein Experiment. Und es geht auf.
Überraschend lebendig werden so die verschiedenen Generationen in ihren Lebenswelten. Und regelrecht mit dabei sind wir, wenn die Geschichte als Schicksal zuschlägt. Oft ist es die Geschichte des Antisemitismus, erst in Form "spinnwebdünner Fädchen von Zurückweisung", schließlich, in den stärksten Passagen des Buchs, während des so genannten Anschlusses Österreichs und der folgenden Enteignung jüdischen Besitzes. "Das Geräusch zerbrechender Gegenstände ist die Belohnung für eine lange Wartezeit. Diese Nacht ist voll solcher Belohnungen", heißt es da, und: "Es ist das seltsame Auflösen einer Sammlung, eines Hauses, einer Familie."
Manchmal verspürt de Waal "eine idiotische Wut". Manche Episoden verfolgen ihn, greifen ihn an oder erschöpfen ihn. Für ihn, den Keramiker, sind auch Geschichten Dinge. Sie werden geformt, haben ein Material, eine Oberfläche, einen Charakter. Die Netsuke sind beides, Objekte und Geschichten. Zumindest sind sie das für Edmund de Waal. Und für die Zeit der Lektüre dieses lesenswerten Buchs auch für uns.
Besprochen von Hans von Trotha
Edmund de Waal: Der Hase mit den Bernsteinaugen.
Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer,
Zsolnay Verlag, Wien 2011
352 Seiten, 19,90 Euro