Raucherzone

Von 1941 bis 1944 stand die Halbinsel Krim unter deutscher Besatzung. Eine schreckliche Zeit für die dort lebenden Menschen. Eine profitable Zeit für den Tabakkonzern Reemtsma. Wie deutsche Wehrmacht und deutsche Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg Hand in Hand arbeiteten, das zeigen Karl Heinz Roth und Jan-Peter Abraham.
Es sieht nicht gut aus für Reemtsma zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Der Tabakkonzern gehört zwar zu den zehn deutschen Top-Firmen (vor Krupp und Flick), Zigaretten sind Volksdroge Nummer 1, die Konzernchefs haben sich mit Millionenspenden das Wohlwollen der NS-Führung erkauft, aber dieselbe Führung um den Nichtraucher Hitler erwägt Anti-Raucher-Kampagnen.

Schlimmer noch: Eben ist der Import von Orienttabak zusammengebrochen, und nach Kriegsende soll die Tabakindustrie verstaatlicht werden. Der Konzern reagiert - er besticht Bonzen, Entscheidungsträger, er diversifiziert und expandiert.

Im November 1941 erobert die Wehrmacht die Krim, und dort findet Reemtsma ideale Bedingungen: gefällige Besatzer, die Infrastruktur der sowjetischen Tabakwirtschaft mit Feldern und Fabriken, das Klima, die Arbeiter. Bald schuften 30.000 Menschen für Reemtsma, sie bescheren dem Unternehmen unfassbar hohe Gewinne.

Gibt es Probleme mit den Einheimischen (die Tabak verstecken) oder mit Partisanen, mit Verweigerung und offenem Widerstand, dann schickt man Strafexpeditionen. 1944 fliehen die Deutschen von der Krim, sie hinterlassen wüstes Land. 127 Orte sind niedergebrannt, Zehntausende Zivilisten ermordet, und wie viele starben an Hunger? Der Tabakkonzern und seine Eigner aber kennen zu Kriegsende nur ein Problem: Überliquidität.

Karl Heinz Roth (Jahrgang 1942), ein Sozial- und Wirtschaftshistoriker, und der Slawist Jan-Peter Abraham (geb. 1967) haben die Geschichte von Reemtsma auf der Krim auf beeindruckende Weise dokumentiert. Nein, ihr Werk ist keine Firmenhistorie mit engem Fokus, sondern eine Musterstudie über die Verquickung von Wirtschaft und Militär im Krieg, reich an Details, eine Untersuchung mit weitem Horizont und mehreren Ebenen. Die Autoren zeigen die Sichtweise der Herren und die der Knechte, und "en passant" erzählen sie die Geschichte der deutschen Besatzung auf der Krim.

Das Buch liefert wichtige und erschreckende Erkenntnisse: Erstens: Das Feld "Ausbeutung im deutsch besetzten Europa" ist bis heute wenig erforscht. Zumindest auf der Krim war Zwangsarbeit in der Heimat jedoch eine elementare Erfahrung. Nur sechs Prozent der Arbeitsfähigen wurden ins Reich deportiert. Zweitens, das Ausmaß der Kollaboration: Zehntausende Krimtataren kollaborierten – wohl eine Reaktion auf die Zwangskollektivierungen der 1930er Jahre. Drittens: Die Imperialisten übernahmen die stalinistischen Kader, und sie nutzten deren Strukturen - strikte Zentralisierung sowie ein "System der parasitären Ausbeutung". Die Arbeiter waren Leibeigene, bezahlt mit Naturalien; Hunger diente der Disziplinierung. Viertens: "Das Krim-Abenteuer des Reemtsma-Konzerns [war] auf erschreckende Weise effizient." Dreißig deutsche Experten genügten zur Kontrolle. Und eine besonders wichtige Erkenntnis: Der Fall "Reemtsma auf der Krim" ist vermutlich typisch gewesen für die deutsche Ausplünderungspolitik.

Kleine Mängel beeinträchtigen den Eindruck der Studie - eine gewisse Eitelkeit der Verfasser und ihr umständlicher, schwer lesbarer Stil. Dennoch: Was für ein Werk! Zwölf Jahre lang haben die Autoren geforscht. Sie haben verstreute Akten gesucht, haben über 300 Zeitzeugen befragt, sie betraten Neuland. Was trieb sie? Die Tatsache, dass die Zwangsarbeiter in den okkupierten Gebieten von Bundesrepublik oder Heimatbehörden nie entschädigt wurden. (Zwei der drei Erben, vor allem Jan Philipp Reemtsma, haben auf privatem Weg Entschädigungen gezahlt.)

Die ehemaligen Leibeigenen des Konzerns sind heute in Mehrheit alt, krank, verbittert. Vielleicht, diese Hoffnung äußern die Autoren, erhalten die Geschundenen oder Hinterbliebenen nun endlich die Zuwendung, die sie verdienen.

Die Autoren
Karl Heinz Roth, geb. 1942. Mitbegründer der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Veröffentlichungen zur Sozial-, Wirtschafts-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Slawist Jan-Peter Abraham, geb. 1967; Übersetzungen

Hintergrund
Gesamtzahl der unfreien Arbeiter, die im 2. Weltkrieg für NS-Deutschland schufteten: 36 Millionen Menschen. Davon im Reich (Deportierte): 13,5 Millionen.

Besprochen von Uwe Stolzmann

Karl Heinz Roth, Jan-Peter Abraham: Reemtsma auf der Krim Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941-1944
Edition Nautilus, Hamburg 2011
574 Seiten, 39,90 Euro
Mehr zum Thema