"Auf der Flucht"

Reportage-Band beschreibt konkrete Schicksale

Flüchtlinge an der mazedonisch-griechischen Grenze
Ganz nah an den Menschen erzählen die ORF-Korespondenten Karim El Gawhary und Mathilde Schwabeneder Fluchtgeschichten. © afp/Armend Nimani
Von Anselm Weidner · 10.10.2015
Unermessliche Leidensgeschichten erzählen Karim El Gawhary und Mathilde Schwabeneder in "Auf der Flucht". Der Reportage-Band ist voller Empathie geschrieben und erhebt keinerlei analytischen Anpruch - ist aber dennoch keinesfalls unpolitisch.
"Die Flüchtlingsfrage wird auf lange Sicht eine der brennendsten Fragen europäischer Gesellschaften bleiben. Und sie wird keine abstrakte Frage bleiben", heißt es im gemeinsamen Schlusskapitel "Und jetzt?" von "Auf der Flucht – Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers" von Mathilde Schwabeneder, ORF-Korrespondentin in Rom und Karim El Gawhary, ORF-Nahost-Korrespondent in Kairo. Wie recht sie haben, ist heute die alltägliche Erfahrung in im Grunde allen europäischen Gesellschaften.
Sind es 800.000 oder eine Million auf der Flucht, die allein in diesem Jahr nach Deutschland kommen? Zahlen! Zahlen interessieren die beiden Journalisten nicht. Zahlen sind abstrakt. Die Autoren sind auf jeder der 188 Seiten konkret. Sie interessieren die Menschen, zum Beispiel in der Reportage über Soha, die mit ihren vier Kindern und 160 anderen syrischen Flüchtlingen versuchte, auf einem alten Kutter von der ägyptischen Mittelmeeerküste nach Europa zu gelangen. Der Kutter sank nach wenigen Seemeilen.
Drei ertrunkene Töchter
Zitatorin: "Soha hatte als einzige eine Schwimmweste an. Ihre vier Töchter im Alter zwischen drei und elf Jahren klammerten sich panisch an die Mutter. Die Gruppe drohte unterzugehen, weil die Schwimmweste das Gewicht von fünf Menschen nicht über Wasser halten konnte. Soha war in einer Lage, die sich keine Mutter der Welt vorstellen will. Wenn sie nicht alle ertrinken sollten, musste sie sich entscheiden, welches ihrer Kinder sie loslässt."
Sie wollte und konnte diese Entscheidung nicht treffen, trotzdem sind drei ihrer Kinder ertrunken. Nur die älteste Tochter Sarah überlebt mit ihrer Mutter. Oder die Geschichte einer Frau auf der Flucht von Syrien in den Libanon.
Cover: Karim El-Gawhary und Mathilde Schwabeneder "Auf der Flucht"
Cover: Karim El-Gawhary und Mathilde Schwabeneder "Auf der Flucht"© Kremayr & Scheriau
Zitatorin: "Ihr Mann am Steuer, ihr zehnjähriger Sohn Ali auf dem Rücksitz. In den Armen hält er seinen einjährigen Bruder Ashraf.Es scheint, als wären sie den Kämpfen gerade entkommen, als sie einen Schuss und ein dumpfes Geräusch hört. Die junge Mutter dreht sich um und blickt in Alis schreckgeweitete Augen. Einen Augenblick ist es ganz still im Auto. Dann zerreißt Alis gellender Schrei die gespenstische Stille. Ein Querschläger hat den Kopf des kleinen Ashraf zerfetzt. Sein Kopf, sagt die Mutter mit zitternder Stimme, sei regelrecht explodiert. Zwei Jahre alt wäre er jetzt geworden. Bei unserem Gespräch sitzt der zehnjährige Ali wie versteinert neben seiner Mutter. Seit dem tödlichen Schuss spricht er kaum mehr."
Und so geht das weiter in sieben der neun Kapitel. Eine Buch der Reportagen des unermesslichen menschlichen Leids, des unendlichen, kaum vorstellbaren Elends vor allem aus dem Nahen und Mittleren Osten, einer zerstörten Weltregion und aus Afrika. Nicht weniger erschütternd, wie es den Flüchtenden, ausgebeutet und wie Sklaven "in den Fängen von Menschenhändlern", dann im gelobten Kontinent Europa ergeht. Das Kapitel "Die Ausbeutung des Elends" vermittelt so bisher unbekannte Innenansichten vom zutiefst menschenverachtenden profitablen Schlepperunwesen in den Händen einiger weniger Mafiosi. Was für ein Blick in was für Abgründe!
Solidarität in Oberösterreich
Zitatorin: "Ich frage mich an dieser Stelle, ob die Leser oder Leserinnen dieses Buches irgendwann aussteigen, weil sie diese furchtbaren Geschichten einfach nicht mehr aushalten. Vielleicht haben auch Sie diesen Gedanken gehabt. Die Geschichten sind so voller Verzweiflung, sie könnten den Leser entmutigen, der das alles einfach irgendwann nicht mehr wissen will."
Genug dieser Blicke in die dantesken Höllenschlünde des 21. Jahrhunderts, so scheint es Karim El Gawhary beim Schreiben dieser Reportagen selbst empfunden zu haben, vielleicht gerade weil sie immer ganz nah an den Menschen und voller Empathie geschrieben sind. Aber dann kommt in den letzten beiden Kapiteln doch noch Licht in all das Dunkel. Was da über die Rettungseinsätze der Schiffsbesatzungen und Ärzte im Rahmen des italienischen Seenotrettungsprogramms Mare Nostrum zu lesen ist, ermutigt. Und "Großraming: Das Tal nicht im Kopf" ist die Reportage über ein kleines oberösterreichisches Dorf, das nicht nur gelernt hat, mit einem Flüchtlingsheim zu leben, sondern auch, dass es sich in praktischer Solidarität mit den Geflüchteten besser leben läßt, freier in Kopf und Herz. Farbfotos zu den Texten verstärken die dokumentarische Qualität dieses Reportagebandes.
"Auf der Flucht – Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers" von Karim El Gawhary und Mathilde Schwabeneder, erhebt keinerlei analytischen Anspruch und könnte insofern als unpolitisch mißverstanden werden. Aber es hilft mit dem Herzen besser zu verstehen, was die politische Stunde geschlagen hat, sich in die Hundertausenden Flüchtenden die jetzt nach Europa kommen einzufühlen, sich in Solidarität einzuüben.

Karim El Gawhary und Mathilde Schwabeneder: Auf der Flucht – Reportagen von beiden Seiten des Mittelmeers
Verlag Kremayr und Scheriau, Wien 2015
192 Seiten, 22,00 Euro

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