Auf dem rechten Auge blind?
Seit Jahrzehnten befasst sich der gelernte Kriminalist Bernd Wagner mit dem Thema Rechtsextremismus – zunächst in der DDR, später im wiedervereinten Deutschland. Die von Wagner mitbegründete Initiative "Exit Deutschland" hat seit dem Jahr 2000 mehr als 400 meist jungen Menschen zum Ausstieg aus der Neonazi-Szene verholfen.
Deutschlandradio Kultur: Mein Gesprächspartner heute ist Bernd Wagner, seit vielen Jahren Experte für Rechtsextremismus und Mitbegründer der Initiative "Exit Deutschland", einer Organisation, die Menschen hilft, aus der Neonazi-Szene auszusteigen. Guten Tag, Herr Wagner.
Bernd Wagner: Einen recht schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, das Thema Rechtsextremismus beschäftigt Sie seit Jahrzehnten, zunächst bei der DDR-Kriminalpolizei, denn auch im Arbeiter- und Bauernstaat gab es eine rechte Szene, und nach der Wende bei der bundesdeutschen Kripo sowie bei "Exit". Warum eigentlich lässt Sie dieses Thema nicht los?
Bernd Wagner: Ich bin nachhaltig angefasst von diesem Thema aus persönlichen Erlebnissen heraus und natürlich, wenn man sich in so einem beruflichen Feld bewegt, auch aus Interesse an der beruflichen Angelegenheit. Da ich Beruf immer ausgeübt habe auch mit einem Schuss Ethos, hat mich das also wahnsinnig angestrengt, immer über Kriminalität beispielsweise Rechtsradikaler hinwegsehen zu können und zur Tagesordnung überzugehen, zum nächsten Fall. Mich hat also immer umgetrieben, warum Leute so was machen und was man dagegen tun kann und wie kann man die Leute wieder davon abbringen, sich so zu verhalten.
Deutschlandradio Kultur: In der DDR wurden Ihre Mahnungen vor der rechten Gefahr in den Wind geschlagen, weil wohl nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und in der Bundesrepublik wird das Thema ebenfalls recht stiefmütterlich behandelt. Ist der eher laxe staatliche Umgang mit dem Rechtsextremismus nach Ihrer Erfahrung so etwas wie eine - sagen wir mal - deutsch-deutsche Gemeinsamkeit in Ost und West?
Bernd Wagner: Ich habe immer in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland das Gefühl bekommen, dass man sich drückt, da klar zu sehen, das heißt, sich auch mit der Geschichte auseinanderzusetzen, mit den gesellschaftlichen Umständen, warum heute Rechtsradikalismus und auch rechtsradikale Gewalt entstehen. Es hat so etwas wie einen Verdrängungseffekt an sich. Das ist offensichtlich ein in der Massenpsychologie und in unserer deutschen auflaufenden Kultur verankertes Syndrom, das ich historisch vielleicht nachvollziehen, aber nicht akzeptieren kann.
Deutschlandradio Kultur: Reden wir mal über die Arbeit bei "Exit Deutschland". Wie vielen Menschen hat "Exit" seit der Gründung im Jahr 2000 beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene geholfen?
Bernd Wagner: Wir haben 482, das ist jetzt der aktuelle Stand, Personen helfen können, aus dieser Szene auszusteigen. Da sind schwierige Verläufe darunter gewesen und natürlich auch etwas leichtere Verläufe. Wir haben aber auch Rückkehrer in diese Szene sehen dürfen. Allerdings hält sich die Rate mit insgesamt 10, die das abgebrochen haben - und nicht alle sind in den Rechtsextremismus zurückgegangen -, doch in Grenzen.
Deutschlandradio Kultur: Und bei denen, denen Sie sozusagen den Ausstieg ermöglicht haben, da reden wir ausschließlich von Menschen, die nicht nur Sympathisanten waren, sondern in irgendeiner Weise aktiv und organisiert in der Szene?
Bernd Wagner: In einer sehr großen Mehrheit der Fälle, die sich bei uns eingefunden haben, waren das Leute, die - wenn man das jetzt mit dem Fachjargon ausdrücken möchte - Kader der Szene gewesen sind. Das heißt also, Leute, die Funktionsträger innerhalb dieses Systems waren, also in Gruppen Gruppenführungen hatten oder auch an wichtigen Stellen, Schnittstellen in der Szene, in der Vernetzwerkung des Systems dort aktiv waren.
Deutschlandradio Kultur: Kann man eigentlich den typischen Aussteiger charakterisieren, ich stelle mir jetzt mal vor als Außenstehender, männlich, eher unter 30, eher ungebildet, Glatze, Springerstiefel? Oder ist das ein ganz falsches Bild?
Bernd Wagner: Ja, das ist das übliche Bild, was in der Gesellschaft von Rechtsradikalen besteht. Da sind die Medien voll von. Das ist auch ein Gutteil der Wissenschaft von diesem Bild angefüllt. Auch die Politik ernährt sich von diesem medial hochgehaltenen Bild. Es trifft so nicht zu. Es ist natürlich auch eine Wahrheit. Das heißt, es gibt solche Menschen, die mit diesem Bild beschreibbar sind, aber in der Regel handelt es sich um relativ gut ausgebildete, nicht nur männliche, sondern auch weibliche Angehörige der Szene, die auch in regelrechten Verhältnissen groß geworden sind, auch in regelrechten Verhältnissen leben, allerdings mit einem zentralen Unterschied zum üblichen Teil, dem so genannten normalen Teil der Gesellschaft, dass sie einer rechtsextremen, einer rechtsradikalen Weltanschauung frönen und das tätig umsetzen. Das ist der einzige große Unterschied zu den so genannten Normalbürgern.
Deutschlandradio Kultur: Auf Ihrer Homepage exit-deutschland.de las ich, dass Sie auch Familien beratend zur Seite stehen. Können also auch beispielsweise Eltern zu Ihnen kommen, die etwa feststellen, dass ihr Kind in die Szene abdriftet oder dort vielleicht sogar gelandet ist?
Bernd Wagner: Das haben wir seit Jahren im Programm. Wir waren, als wir im Jahr 2000 mit "Exit" anfinden und die ersten Ausstiegsfälle uns erreichten, auch konfrontiert mit einem erheblichen Bedarf an Eltern, die sich bei uns meldeten, um mitzuteilen, dass ihre Kinder in dieser Szene versinken, die Kinderzimmer umfunktionalisiert werden von Puppenstuben, Teddybär-Regalstuben hin zu Nazistuben, also, wo Musikscheiben rumliegen, wo die ganze Bildwelt innerhalb des Kinderzimmers sich wandelt, sich historisiert, militarisiert und auch in Gewaltzeichen umfunktionalisiert wird. Also, das hat uns erreicht.
Und seitdem machen wir natürlich auch Beratung für Eltern, die in dieser für sie schwierigen, oftmals auch existenziell unheimlich bedrückenden Lage sind.
Deutschlandradio Kultur: Sie sprachen jetzt von Kinderzimmern, nicht von Jugendzimmern. Wie jung sind denn die Jüngsten, die in diese Szene abzudriften drohen?
Bernd Wagner: Also, wir haben solche Rufe von Eltern erreicht, deren Kinder 11, 12, 13, 14 Jahre alt sind, natürlich auch Jugendliche dann ab 15, 16, 17. Aber es ist auch schon diese darunter liegende Altersgruppe anfällig.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir mal zurück zu den potenziellen Aussteigern. Wie läuft so ein Prozess in der Regel ab? Ist das ein längerer Abnabelungsprozess? Oder sagen manche Knall auf Fall, ich will nicht mehr, ich will sofort raus?
Bernd Wagner: Beide Fälle gibt es. Das Knall-auf-Fall-Modell ist natürlich immer eins, was wie Speichergift läuft. Das heißt, irgendwann ist der Zweifel da an der sinnfälligen Existenz in der Szene. Es kann ein Schlüsselereignis geben, wo sich also diese Sinnfälligkeit plötzlich in Luft auflöst und die sich dann ad hoc entschließen, dort wegzugehen. Aber in der Regel ist also ein ganz langer Vorlaufprozess bei den Leuten festzustellen.
Deutschlandradio Kultur: Was können Sie konkret tun für den, der aussteigen will? Ich unterstelle mal, Sie versuchen ihm auf pädagogischem Weg ein anderes Weltbild zu vermitteln? Helfen Sie auch konkret bei Jobsuche oder Ausbildungsplatzsuche oder auch beim Umzug? Wenn man aus der alten Szene weg will, vermute ich mal, muss man auch oft umziehen.
Bernd Wagner: Also, wir haben da für jeden einzelnen Menschen alles irgendwie im Gepäck. Es gibt kein festes Ritual. Es gibt auch kein festes Strukturangebot. Das hat gute Gründe, weil jeder Fall anders gelagert ist. Jeder Mensch ist anders. Jeder ist in anderen Bindungsverhältnissen drin. Und wir gehen so ran, dass wir sagen: Lasst uns gemeinsam dein Szenario oder Ihr Szenario aufbauen, wie Sie a) da wegkommen, b), was ist erforderlich, um sich ein neues Leben aufzubauen. Und da kann natürlich alles dabei sein - psychologische Beratung, es kann Umzug notwendig sein aus Sicherheitsgründen und um Bindungen abzubauen und zu kappen. Arbeitssuche steckt natürlich auch da drin, Bildungsangebote. All das versuchen wir natürlich im Einzelfall dann aufzugreifen, nutzen dann Kontakte, die wir haben, und Möglichkeiten, um Vermittlungen zu machen.
Wir achten aber sehr darauf, dass die Einzelnen selbst tätig werden, wer sie sein wollen, welches Leben sie führen wollen. Da begleiten wir und das natürlich mit dem gesamten sozialen Set, das wir im Überblick haben, wo wir Ahnung von haben und wo wir auch Kontakte haben.
Deutschlandradio Kultur: Werden Aussteiger üblicherweise von der Szene, die sie da verlassen wollen oder verlassen haben, massiv unter Druck gesetzt?
Bernd Wagner: Das ist ein ganz wichtiges Thema. Es ist erheblich, was Einzelne in einer doch für sie persönlich schwierigen Situation zu ertragen haben.
Nun kann man sich ja hinstellen und sagen, gut, die haben früher auch andere Leute unter Druck gebracht. Sie haben Gewalt ausgeübt und das geschieht ihnen Recht, wenn ihnen jetzt also Gleiches widerfährt. Wir gehen so nicht heran. Wir sagen, das muss sicherbar sein durch den demokratischen Verfassungsstaat, durch den Rechtsstaat, aber natürlich auch durch die Bürgergesellschaft, dass Menschen unbehelligt bleiben vor Gewalt, vor solchem existenziellen Druck.
Das hat also das Freiheitsgebot der Demokratie so in sich, was viele nicht begreifen wollen, auch im Staate nicht. Oftmals ist die Realität so, dass Aussteigende auch Freiwild werden und leider auch keinen staatlichen Schutz in ausreichendem Maße erhalten.
Deutschlandradio Kultur: Aber die mehr als 400 Leute, von denen Sie eingangs sprachen, die Sie im Laufe der Zeit aus der Szene haben herausholen und begleiten können, die leben jetzt halbwegs sicher?
Bernd Wagner: Sie leben so, wie sie sich sicher machen können, um das vielleicht einschränkend zu sagen. Niemand ist davor gefeit, nicht doch Opfer von Gewalt ehemaliger Gesinnungskameraden zu werden.
Der Zufallsfaktor spielt dann auch eine Rolle. Wir haben Fälle erlebt, nach dem Motto, die Welt ist klein. Wir hatten Leuten geraten, in bestimmte Gegenden zu ziehen bzw. bestimmte Orte zu meiden. Trotz alledem sind Begegnungen durch Zufälligkeiten entstanden, die natürlich dann also auch zu einer Fluchtreaktion der Betroffenen führen mussten, weil sofort klar war, die Person ist am Aufenthaltsort identifiziert und ist jetzt jederzeit Freiwild und verfolgbar.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, "Exit Deutschland" hat einen Internetauftritt, ein Postfach und einen mobilen Telefonanschluss. Sie haben hier auch in Berlin ein Büro, in dem wir diese Aufnahmen machen. Das Büro ist nicht erkennbar von außen. Es ist ganz klar, dass hier sozusagen eine Tarnung vorliegt. Wie hoch ist das Sicherheitsrisiko von "Exit"?
Bernd Wagner: Also, wir sind unbeliebt in dieser Szene. Das ist ganz klar. Das merkt man an Reaktionen im Internet. Rechtsextreme, rechtsradikale Internetauftritte strotzen an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten mit ziemlicher Hasspropaganda gegen uns. Wir sind auch bei einem Teil der Szene wohlbekannt.
Da wird natürlich drüber nachgedacht, wie man also auch diesem politischen Feind möglicherweise auch einen Riegel vorschieben kann. Also, wir müssen immer auch daran denken, dort mit Aggression überzogen zu werden - ohne jetzt zu übertreiben. Also, wir sind keine ängstlichen Leute in dem Sinne, aber vorsichtige Leute, deswegen auch gewisse Vorsichtsmaßregeln, die wir ergreifen.
Wir sind uns darüber natürlich im Klaren, dass uns kein Staat unterstützt in Sicherheitsfragen. Wir müssen das selber leisten, selber organisieren, müssen also unsere eigenen Vorsichtsmaßregeln treffen, Vorsorge treffen und natürlich im Falle eines Angriffs auch wehrbereit sein, um das mal etwas militant auszudrücken.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, warum gibt es in Ostdeutschland viermal so viele Gewalttaten von Rechtsextremisten wie in den alten Bundesländern?
Bernd Wagner: Das ist die zentrale Frage, die die Wissenschaft erhebt, aber nicht löst. Wir haben natürlich andere gesellschaftspolitische Situationen im deutschen Vereinigungsprozess, die sich dann natürlich auch in dem Vorgang, beide deutsche Staaten sich wirtschaftlich, kulturell, sozialpolitisch, rechtlich dann vereinigend, zu einem Syndrom ausweiten, was ich dann völkisch-nationalistisch nenne, also, ein weitläufiger Bewusstseinszusammenhang in der Bevölkerung aus Bedrückungs- und Frustrationserfahrungen und -erlebnissen.
Deutschlandradio Kultur: Stichwort Wendeverlierer ...
Bernd Wagner: Wendeverlierer, da gibt es so unterschiedliche Etiketten. Aber das ist ein tiefer Prozess der Verunsicherung, der Frustration, auch des Hasses auf die gesellschaftlichen Umstände, der sich darin ausdrückt.
Und das ist natürlich in Ostdeutschland recht dicht. Das verpackt sich nicht immer in Wahlergebnissen. Allerdings, es verpackt sich schon ein stückweit in den Nichtwählerpotenzialen. Also, man kann unterschiedliche politische, kulturelle Ausdrucksformen wahrnehmen, die dieses vorbereiten, diese Dichte von Gewalt, diese Dichte von rechtsradikalen Gruppen vorbereiten, die dann sozusagen nur noch der letztendliche Wirkungseffekt des Geschehens sind und die natürlich dann auch eine Rückwirkung auf das Allgemeine haben.
Das heißt also, Gruppen, die dann in Territorien auch noch Druck machen, die dann also auch Gewalt gegen Andersdenkende ausüben, die die Politik vor sich hertreiben. Da verstärkt sich das dann noch mal genau an der Stelle, wo dann Demokratie als Wertstruktur, als politische Struktur versagt. Also, es ist auch umgedreht eine Versagensaussage zur demokratischen Qualität des Lebens, zur demokratischen Wertequalität, die allenthalben herrscht.
Deutschlandradio Kultur: Experten sagen, seit 1989 habe es in Deutschland insgesamt vielleicht 150, vielleicht sogar um die 180 Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt gegeben. Die offizielle staatliche Statistik kommt aber auf gerade mal 60 Opfer. Woher rührt diese Diskrepanz?
Bernd Wagner: Das hat wieder mit dem Willen zu tun, möglichst aus politischer Motivation heraus die Realität zu kaschieren. Jeder Tote ist ja eine Negativaussage für die Demokratie, ist eine Negativaussage für die politische Struktur, auch für die Struktur der staatlichen Verwaltungen, der Exekutive.
Also, insofern ist völlig klar, dass dort ein Kaschierungsimpuls läuft, der sich natürlich auch in Kriterien der Bewertung von Handlungen darstellt. Das heißt, wenn Sie sich die Kriterien der Bewertung durch das BKA beispielsweise anschauen, werden Sie deutliche Unterschiede finden zu den Bewertungsmustern, die die Journalisten, die sich mit den Todesopfern beschäftigt haben, dann angesetzt haben, oder auch was Opferhilfsgruppen, die sich mit Opfern rechtsradikaler Gewalt helfend beschäftigen, dann aufstellen.
Wir haben auch ein eigenes Kriterienbild entworfen. Ich komme ja aus dem kriminalpolizeilichen Staatsschutz und weiß natürlich auch nach kriminalistischen und rechtlichen Gesichtspunkten solche Taten zu bewerten. Also, das unterscheidet sich gar deutlich.
Deutschlandradio Kultur: Frage ich mal konkret den ehemaligen Kriminaloberrat: Sind Justiz und Polizei auf dem rechten Auge blind?
Bernd Wagner: Sie sind nicht auf dem rechten Auge blind, das wäre eine deutliche Überzeichnung des Problems. Hier wirkt sich eher aus die organisierte Verantwortungslosigkeit staatlichen Vollzugs in dieser Republik. Das ist ein System der grundsätzlichen Verantwortungslosigkeit bei hoher Rechtsstaatlichkeit.
Es scheint ein Widerspruch zu sein, ist in sich aber keiner. Das kann man beim Thema innere Sicherheit sehen, beim Komplex Nationalsozialistischer Untergrund. Überall wirkt sich die gleiche unheilige Psychologie des Systems aus, nämlich organisierte Verantwortungslosigkeit, systemische Anarchie zu erzeugen.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen Sie eigentlich, weil das Stichwort NSU gerade fiel, irgendeine Veränderung wahr, sei es bei Polizei, Justiz oder auch bei den Aussteigewilligen, seitdem man weiß, dass da eine Gruppe mordend durchs Land zog, der Nationalsozialistische Untergrund? Oder ist das ein Parallelgeschehen, was keinen Einfluss hat?
Bernd Wagner: Der Nationalsozialistische Untergrund ist Fleisch vom Fleische der Bewegung, also der rechtsradikalen Bewegung, in seinem Gesamtzusammenhang, also nicht nur streng des ultramilitanten Teils. Sie sehen selbst, da sind NPD-Leute drin verwickelt. Dort sind Nazi-Skinheads verwickelt. Dort sind Rocker verwickelt. Da sind ganz optisch normal Erscheinende verwickelt. Also, alle Erscheinungsfacetten des Rechtsradikalismus haben dazu beigetragen, in irgendeiner Form den Nationalsozialistischen Untergrund zu formieren, zu unterstützen, geistig auszurichten, zu konzeptionalisieren.
Sie kommen aus der DDR, diese jungen Leute, damals junge Leute, als sie mit dem rechtsradikalen Weg anfingen. Es ging schon ein stückweit in der DDR los damit. Dann hat sich das über die frühen 90er Jahre fortgesetzt, ist dann de facto quasi vergesellschaftet gewesen mit NPD-Kadern, die auch im ultramilitanten Bereich drin waren. Und dann hat sich also daraus die terroristische Variante entwickelt, eine spezielle Form von Terrorismus, die der Staat natürlich auch nicht zu deuten wusste.
Deutschlandradio Kultur: Ist der Kampf gegen den Rechtsextremismus eigentlich vor allem ein Kampf um die jungen Leute, die ja in besonderer Weise von der rechten Szene umgarnt werden, etwa in Schulen und Vereinen?
Bernd Wagner: Auch. Ich würde sagen, auch. Ich halte es für einen zentralen Fehler, der seit Jahren abläuft, Rechtsextremismus, Rechtsradikalität ausschließlich auf die Jugend zu projizieren, das geradezu dann damit zu vereinseitigen, indem man sagt, wir machen jetzt Bildung, wir machen jetzt Sozialpädagogik und dann wird, wenn wir das also hinreichend dicht und hinreichend gut machen, das Problem erledigt sein. Das ist eine Illusion, die in den frühen 90er Jahren schon aufkam, übrigens auch schon in der DDR gab's diese Vorstellungen sehr merkwürdiger Art.
Und das hat natürlich dazu geführt, dass die gesamte Aufstellung des rechtsradikalen Blocks in der Bundesrepublik Deutschland nicht ernsthaft strategisch in den Blick genommen wurde. Das ist bis heute feststellbar. Und damit sind natürlich auch bestimmte Methoden, Formate, Strategien vereinseitigt.
Wir haben in den letzten Jahren seit Rot-Grün eine Verstaatlichung der Zivilgesellschaft zu erleben. Wir haben geradezu eine Projekte-Industrie gegen Rechtsextremismus aus dem Boden gestampft. Da wird viel Geld investiert. Da wird viel gemacht, aber dann sehr deutlich fokussiert auf die Jugend. Das ist natürlich sicherlich eine gute Investition, auch in Werte, Bildungen Jugendlicher zu investieren, aber das erfasst nicht das ganze Thema. Es erfasst nicht den gesamten Spektralbereich der notwendigen Auseinandersetzung mit dem System des Rechtsextremismus als Ideologie, als Kultur, als Bewegung, als Politik, als Parteien. Also, das gesamte Spektrum wird damit natürlich nicht erfasst.
Wir haben einen zweiten großen Schwerpunkt, der dann gesetzt wird, NPD-Verbot, auch für sich genommen vereinseitigt vom Ansatz her. Da ist viel zu tun an Strategiearbeit, diesen Blick wieder zu weiten und natürlich auf die Zukunft zu richten. Denn Rechtsextremismus, Rechtsradikalität als gesellschaftliche Verhaltensweise, als Denkweise ist ja noch lange nicht erledigt. Es ist ja nicht der alte Hitlerismus, der uns hier ständig im Hause steht, aus der Vergangenheit kommend, sondern die Zukunft wird uns vor Voraussetzungen stellen, denen wir mit dieser Art des Herangehens nicht begegnen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben das Stichwort NPD-Verbot genannt. Sie sind, wenn ich das recht verstanden habe, für ein Verbot der NPD. Warum?
Bernd Wagner: Eben aus den Worten, die ich gerade sagte, als Investition in die Zukunft. Das reicht natürlich für ein Verbotsverfahren nicht aus juristisch. Das ist mir völlig klar.
Deutschlandradio Kultur: Denn wenn es schief geht, wieder schief geht mit dem NPD-Verbot, könnte das die Partei aufwerten. Das ist sicherlich unstrittig.
Ein anderes Argument derer, die sich scheuen, auch wenn sie die NPD furchtbar finden, diese Partei zu verbieten oder es zumindest zu versuchen: Denn die Zahl der Neonazis würde doch nicht automatisch geringer und damit die Gefahr nicht kleiner, nur wenn es diese Partei nicht mehr gäbe.
Bernd Wagner: Das ist unstrittig, dieses Argument ist aber für mich ein Leerargument, weil die Partei natürlich einer Bewegung, also, einer rechtsradikalen Bewegung, Sie merken schon, ich spreche nicht nur immer von Neonazis, sondern ich spreche von Rechtsradikalen, Rechtsextremisten. Das ist größer, weiter als Neonazis. Neonazis ist eine Strömung da drin. Und insofern, sage ich mal, ist dieses Argument nicht stichhaltig, weil es eben nicht nur um diese Neonazis geht. Es geht um die Partei, die es schaffen kann, momentan schafft sie es nicht, ein weites Feld von rechtsradikal gesinnten Menschen politisch zu formieren, gegen die Demokratie in Stellung zu bringen, was wir in anderen europäischen Ländern erleben. -
Denken Sie an Ungarn. Das ist ganz klar. Da sind Koalitionen plötzlich dann möglich politisch mit Rechtsextremisten. Auch andere demokratische Kräfte kippen an solchen Stellen um. Es gibt Brücken, politische Brückenstrukturen, die sich dann aktivieren.
Und dann haben wir de facto Zustände oder können Zustände bekommen, die eine klassische völkische Demokratie darstellen. Es geht hier nicht nur immer um so genannte faschistische Diktaturen, sondern um Lebenszusammenhänge, um politische und Kulturzusammenhänge, die die Freiheit, die menschliche Freiheit, die demokratische Freiheit nicht brauchen kann. Das Gebot der Freiheit der Demokratie, dazu ist Demokratie da, Freiheit zu sichern, wird dadurch verletzt, wenn völkische Demokratien entstehen. Und dieses Potenzial können rechtsextreme Parteien haben, solche gesellschaftlichen Zustände zu befördern, zeitweilig zu sichern und zu zementieren. Und das möchte ich persönlich nicht erleben.
Deutschlandradio Kultur: Ein letztes Wort in gebotener Kürze noch zu "Exit" selbst. Sie leben von Spenden und von staatlichen Geldern. Ist die finanzielle Zukunft von "Exit" eigentlich gesichert oder ist es immer so ein Leben auf der Kippe?
Bernd Wagner: Es ist ein Leben auf der Kippe. Man muss sich das vorstellen: Drahtseil zwischen zwei Häuserzüge gespannt, "Exit Deutschland" tanzt mit einem Regenschirm immer darauf rum. Also, es gibt keine Sicherheit. Politik ist nicht an dieser Art von Sicherheit für unsere Tätigkeit interessiert.
Deutschlandradio Kultur: Warum nicht? Sie haben über 400 Leute rausgezogen.
Bernd Wagner: Das nimmt man ja leider nicht wahr. Das sind, gemessen an dem, was wir erhalten haben, sind die Förderungen, die wir erhalten haben, also kleine Beträge. Also, wir haben Rückfälle erspart. Wir haben Opfern Leid erspart. Also, ich kann das also bis morgen früh noch fortsetzen, welche Vorteile aus einer Deradikalisierungsstrategie entspringen, auch aus dem Herausziehen von über 480 Leuten und natürlich weiteren Sachen, die da auch dran hängen. Das ist ja nicht nur die einfache Zahl 480 beispielsweise. Da hängt ja immer noch sehr viel mehr an sozialer Investition dran.
Also, das wird nicht gewertschätzt. Deswegen zweifle ich auch, auch meine Kolleginnen und Kollegen zweifeln an der Ernsthaftigkeit, an der sittlichen Reife von Politik an der Stelle.
Deutschlandradio Kultur: Kein schönes Schlusswort, aber ein Schlusswort. Ganz herzlichen Dank, Herr Wagner.
Bernd Wagner: Einen recht schönen guten Tag.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, das Thema Rechtsextremismus beschäftigt Sie seit Jahrzehnten, zunächst bei der DDR-Kriminalpolizei, denn auch im Arbeiter- und Bauernstaat gab es eine rechte Szene, und nach der Wende bei der bundesdeutschen Kripo sowie bei "Exit". Warum eigentlich lässt Sie dieses Thema nicht los?
Bernd Wagner: Ich bin nachhaltig angefasst von diesem Thema aus persönlichen Erlebnissen heraus und natürlich, wenn man sich in so einem beruflichen Feld bewegt, auch aus Interesse an der beruflichen Angelegenheit. Da ich Beruf immer ausgeübt habe auch mit einem Schuss Ethos, hat mich das also wahnsinnig angestrengt, immer über Kriminalität beispielsweise Rechtsradikaler hinwegsehen zu können und zur Tagesordnung überzugehen, zum nächsten Fall. Mich hat also immer umgetrieben, warum Leute so was machen und was man dagegen tun kann und wie kann man die Leute wieder davon abbringen, sich so zu verhalten.
Deutschlandradio Kultur: In der DDR wurden Ihre Mahnungen vor der rechten Gefahr in den Wind geschlagen, weil wohl nicht sein konnte, was nicht sein durfte. Und in der Bundesrepublik wird das Thema ebenfalls recht stiefmütterlich behandelt. Ist der eher laxe staatliche Umgang mit dem Rechtsextremismus nach Ihrer Erfahrung so etwas wie eine - sagen wir mal - deutsch-deutsche Gemeinsamkeit in Ost und West?
Bernd Wagner: Ich habe immer in der DDR, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland das Gefühl bekommen, dass man sich drückt, da klar zu sehen, das heißt, sich auch mit der Geschichte auseinanderzusetzen, mit den gesellschaftlichen Umständen, warum heute Rechtsradikalismus und auch rechtsradikale Gewalt entstehen. Es hat so etwas wie einen Verdrängungseffekt an sich. Das ist offensichtlich ein in der Massenpsychologie und in unserer deutschen auflaufenden Kultur verankertes Syndrom, das ich historisch vielleicht nachvollziehen, aber nicht akzeptieren kann.
Deutschlandradio Kultur: Reden wir mal über die Arbeit bei "Exit Deutschland". Wie vielen Menschen hat "Exit" seit der Gründung im Jahr 2000 beim Ausstieg aus der rechtsextremen Szene geholfen?
Bernd Wagner: Wir haben 482, das ist jetzt der aktuelle Stand, Personen helfen können, aus dieser Szene auszusteigen. Da sind schwierige Verläufe darunter gewesen und natürlich auch etwas leichtere Verläufe. Wir haben aber auch Rückkehrer in diese Szene sehen dürfen. Allerdings hält sich die Rate mit insgesamt 10, die das abgebrochen haben - und nicht alle sind in den Rechtsextremismus zurückgegangen -, doch in Grenzen.
Deutschlandradio Kultur: Und bei denen, denen Sie sozusagen den Ausstieg ermöglicht haben, da reden wir ausschließlich von Menschen, die nicht nur Sympathisanten waren, sondern in irgendeiner Weise aktiv und organisiert in der Szene?
Bernd Wagner: In einer sehr großen Mehrheit der Fälle, die sich bei uns eingefunden haben, waren das Leute, die - wenn man das jetzt mit dem Fachjargon ausdrücken möchte - Kader der Szene gewesen sind. Das heißt also, Leute, die Funktionsträger innerhalb dieses Systems waren, also in Gruppen Gruppenführungen hatten oder auch an wichtigen Stellen, Schnittstellen in der Szene, in der Vernetzwerkung des Systems dort aktiv waren.
Deutschlandradio Kultur: Kann man eigentlich den typischen Aussteiger charakterisieren, ich stelle mir jetzt mal vor als Außenstehender, männlich, eher unter 30, eher ungebildet, Glatze, Springerstiefel? Oder ist das ein ganz falsches Bild?
Bernd Wagner: Ja, das ist das übliche Bild, was in der Gesellschaft von Rechtsradikalen besteht. Da sind die Medien voll von. Das ist auch ein Gutteil der Wissenschaft von diesem Bild angefüllt. Auch die Politik ernährt sich von diesem medial hochgehaltenen Bild. Es trifft so nicht zu. Es ist natürlich auch eine Wahrheit. Das heißt, es gibt solche Menschen, die mit diesem Bild beschreibbar sind, aber in der Regel handelt es sich um relativ gut ausgebildete, nicht nur männliche, sondern auch weibliche Angehörige der Szene, die auch in regelrechten Verhältnissen groß geworden sind, auch in regelrechten Verhältnissen leben, allerdings mit einem zentralen Unterschied zum üblichen Teil, dem so genannten normalen Teil der Gesellschaft, dass sie einer rechtsextremen, einer rechtsradikalen Weltanschauung frönen und das tätig umsetzen. Das ist der einzige große Unterschied zu den so genannten Normalbürgern.
Deutschlandradio Kultur: Auf Ihrer Homepage exit-deutschland.de las ich, dass Sie auch Familien beratend zur Seite stehen. Können also auch beispielsweise Eltern zu Ihnen kommen, die etwa feststellen, dass ihr Kind in die Szene abdriftet oder dort vielleicht sogar gelandet ist?
Bernd Wagner: Das haben wir seit Jahren im Programm. Wir waren, als wir im Jahr 2000 mit "Exit" anfinden und die ersten Ausstiegsfälle uns erreichten, auch konfrontiert mit einem erheblichen Bedarf an Eltern, die sich bei uns meldeten, um mitzuteilen, dass ihre Kinder in dieser Szene versinken, die Kinderzimmer umfunktionalisiert werden von Puppenstuben, Teddybär-Regalstuben hin zu Nazistuben, also, wo Musikscheiben rumliegen, wo die ganze Bildwelt innerhalb des Kinderzimmers sich wandelt, sich historisiert, militarisiert und auch in Gewaltzeichen umfunktionalisiert wird. Also, das hat uns erreicht.
Und seitdem machen wir natürlich auch Beratung für Eltern, die in dieser für sie schwierigen, oftmals auch existenziell unheimlich bedrückenden Lage sind.
Deutschlandradio Kultur: Sie sprachen jetzt von Kinderzimmern, nicht von Jugendzimmern. Wie jung sind denn die Jüngsten, die in diese Szene abzudriften drohen?
Bernd Wagner: Also, wir haben solche Rufe von Eltern erreicht, deren Kinder 11, 12, 13, 14 Jahre alt sind, natürlich auch Jugendliche dann ab 15, 16, 17. Aber es ist auch schon diese darunter liegende Altersgruppe anfällig.
Deutschlandradio Kultur: Gehen wir mal zurück zu den potenziellen Aussteigern. Wie läuft so ein Prozess in der Regel ab? Ist das ein längerer Abnabelungsprozess? Oder sagen manche Knall auf Fall, ich will nicht mehr, ich will sofort raus?
Bernd Wagner: Beide Fälle gibt es. Das Knall-auf-Fall-Modell ist natürlich immer eins, was wie Speichergift läuft. Das heißt, irgendwann ist der Zweifel da an der sinnfälligen Existenz in der Szene. Es kann ein Schlüsselereignis geben, wo sich also diese Sinnfälligkeit plötzlich in Luft auflöst und die sich dann ad hoc entschließen, dort wegzugehen. Aber in der Regel ist also ein ganz langer Vorlaufprozess bei den Leuten festzustellen.
Deutschlandradio Kultur: Was können Sie konkret tun für den, der aussteigen will? Ich unterstelle mal, Sie versuchen ihm auf pädagogischem Weg ein anderes Weltbild zu vermitteln? Helfen Sie auch konkret bei Jobsuche oder Ausbildungsplatzsuche oder auch beim Umzug? Wenn man aus der alten Szene weg will, vermute ich mal, muss man auch oft umziehen.
Bernd Wagner: Also, wir haben da für jeden einzelnen Menschen alles irgendwie im Gepäck. Es gibt kein festes Ritual. Es gibt auch kein festes Strukturangebot. Das hat gute Gründe, weil jeder Fall anders gelagert ist. Jeder Mensch ist anders. Jeder ist in anderen Bindungsverhältnissen drin. Und wir gehen so ran, dass wir sagen: Lasst uns gemeinsam dein Szenario oder Ihr Szenario aufbauen, wie Sie a) da wegkommen, b), was ist erforderlich, um sich ein neues Leben aufzubauen. Und da kann natürlich alles dabei sein - psychologische Beratung, es kann Umzug notwendig sein aus Sicherheitsgründen und um Bindungen abzubauen und zu kappen. Arbeitssuche steckt natürlich auch da drin, Bildungsangebote. All das versuchen wir natürlich im Einzelfall dann aufzugreifen, nutzen dann Kontakte, die wir haben, und Möglichkeiten, um Vermittlungen zu machen.
Wir achten aber sehr darauf, dass die Einzelnen selbst tätig werden, wer sie sein wollen, welches Leben sie führen wollen. Da begleiten wir und das natürlich mit dem gesamten sozialen Set, das wir im Überblick haben, wo wir Ahnung von haben und wo wir auch Kontakte haben.
Deutschlandradio Kultur: Werden Aussteiger üblicherweise von der Szene, die sie da verlassen wollen oder verlassen haben, massiv unter Druck gesetzt?
Bernd Wagner: Das ist ein ganz wichtiges Thema. Es ist erheblich, was Einzelne in einer doch für sie persönlich schwierigen Situation zu ertragen haben.
Nun kann man sich ja hinstellen und sagen, gut, die haben früher auch andere Leute unter Druck gebracht. Sie haben Gewalt ausgeübt und das geschieht ihnen Recht, wenn ihnen jetzt also Gleiches widerfährt. Wir gehen so nicht heran. Wir sagen, das muss sicherbar sein durch den demokratischen Verfassungsstaat, durch den Rechtsstaat, aber natürlich auch durch die Bürgergesellschaft, dass Menschen unbehelligt bleiben vor Gewalt, vor solchem existenziellen Druck.
Das hat also das Freiheitsgebot der Demokratie so in sich, was viele nicht begreifen wollen, auch im Staate nicht. Oftmals ist die Realität so, dass Aussteigende auch Freiwild werden und leider auch keinen staatlichen Schutz in ausreichendem Maße erhalten.
Deutschlandradio Kultur: Aber die mehr als 400 Leute, von denen Sie eingangs sprachen, die Sie im Laufe der Zeit aus der Szene haben herausholen und begleiten können, die leben jetzt halbwegs sicher?
Bernd Wagner: Sie leben so, wie sie sich sicher machen können, um das vielleicht einschränkend zu sagen. Niemand ist davor gefeit, nicht doch Opfer von Gewalt ehemaliger Gesinnungskameraden zu werden.
Der Zufallsfaktor spielt dann auch eine Rolle. Wir haben Fälle erlebt, nach dem Motto, die Welt ist klein. Wir hatten Leuten geraten, in bestimmte Gegenden zu ziehen bzw. bestimmte Orte zu meiden. Trotz alledem sind Begegnungen durch Zufälligkeiten entstanden, die natürlich dann also auch zu einer Fluchtreaktion der Betroffenen führen mussten, weil sofort klar war, die Person ist am Aufenthaltsort identifiziert und ist jetzt jederzeit Freiwild und verfolgbar.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, "Exit Deutschland" hat einen Internetauftritt, ein Postfach und einen mobilen Telefonanschluss. Sie haben hier auch in Berlin ein Büro, in dem wir diese Aufnahmen machen. Das Büro ist nicht erkennbar von außen. Es ist ganz klar, dass hier sozusagen eine Tarnung vorliegt. Wie hoch ist das Sicherheitsrisiko von "Exit"?
Bernd Wagner: Also, wir sind unbeliebt in dieser Szene. Das ist ganz klar. Das merkt man an Reaktionen im Internet. Rechtsextreme, rechtsradikale Internetauftritte strotzen an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten mit ziemlicher Hasspropaganda gegen uns. Wir sind auch bei einem Teil der Szene wohlbekannt.
Da wird natürlich drüber nachgedacht, wie man also auch diesem politischen Feind möglicherweise auch einen Riegel vorschieben kann. Also, wir müssen immer auch daran denken, dort mit Aggression überzogen zu werden - ohne jetzt zu übertreiben. Also, wir sind keine ängstlichen Leute in dem Sinne, aber vorsichtige Leute, deswegen auch gewisse Vorsichtsmaßregeln, die wir ergreifen.
Wir sind uns darüber natürlich im Klaren, dass uns kein Staat unterstützt in Sicherheitsfragen. Wir müssen das selber leisten, selber organisieren, müssen also unsere eigenen Vorsichtsmaßregeln treffen, Vorsorge treffen und natürlich im Falle eines Angriffs auch wehrbereit sein, um das mal etwas militant auszudrücken.
Deutschlandradio Kultur: Herr Wagner, warum gibt es in Ostdeutschland viermal so viele Gewalttaten von Rechtsextremisten wie in den alten Bundesländern?
Bernd Wagner: Das ist die zentrale Frage, die die Wissenschaft erhebt, aber nicht löst. Wir haben natürlich andere gesellschaftspolitische Situationen im deutschen Vereinigungsprozess, die sich dann natürlich auch in dem Vorgang, beide deutsche Staaten sich wirtschaftlich, kulturell, sozialpolitisch, rechtlich dann vereinigend, zu einem Syndrom ausweiten, was ich dann völkisch-nationalistisch nenne, also, ein weitläufiger Bewusstseinszusammenhang in der Bevölkerung aus Bedrückungs- und Frustrationserfahrungen und -erlebnissen.
Deutschlandradio Kultur: Stichwort Wendeverlierer ...
Bernd Wagner: Wendeverlierer, da gibt es so unterschiedliche Etiketten. Aber das ist ein tiefer Prozess der Verunsicherung, der Frustration, auch des Hasses auf die gesellschaftlichen Umstände, der sich darin ausdrückt.
Und das ist natürlich in Ostdeutschland recht dicht. Das verpackt sich nicht immer in Wahlergebnissen. Allerdings, es verpackt sich schon ein stückweit in den Nichtwählerpotenzialen. Also, man kann unterschiedliche politische, kulturelle Ausdrucksformen wahrnehmen, die dieses vorbereiten, diese Dichte von Gewalt, diese Dichte von rechtsradikalen Gruppen vorbereiten, die dann sozusagen nur noch der letztendliche Wirkungseffekt des Geschehens sind und die natürlich dann auch eine Rückwirkung auf das Allgemeine haben.
Das heißt also, Gruppen, die dann in Territorien auch noch Druck machen, die dann also auch Gewalt gegen Andersdenkende ausüben, die die Politik vor sich hertreiben. Da verstärkt sich das dann noch mal genau an der Stelle, wo dann Demokratie als Wertstruktur, als politische Struktur versagt. Also, es ist auch umgedreht eine Versagensaussage zur demokratischen Qualität des Lebens, zur demokratischen Wertequalität, die allenthalben herrscht.
Deutschlandradio Kultur: Experten sagen, seit 1989 habe es in Deutschland insgesamt vielleicht 150, vielleicht sogar um die 180 Todesopfer durch rechtsextreme Gewalt gegeben. Die offizielle staatliche Statistik kommt aber auf gerade mal 60 Opfer. Woher rührt diese Diskrepanz?
Bernd Wagner: Das hat wieder mit dem Willen zu tun, möglichst aus politischer Motivation heraus die Realität zu kaschieren. Jeder Tote ist ja eine Negativaussage für die Demokratie, ist eine Negativaussage für die politische Struktur, auch für die Struktur der staatlichen Verwaltungen, der Exekutive.
Also, insofern ist völlig klar, dass dort ein Kaschierungsimpuls läuft, der sich natürlich auch in Kriterien der Bewertung von Handlungen darstellt. Das heißt, wenn Sie sich die Kriterien der Bewertung durch das BKA beispielsweise anschauen, werden Sie deutliche Unterschiede finden zu den Bewertungsmustern, die die Journalisten, die sich mit den Todesopfern beschäftigt haben, dann angesetzt haben, oder auch was Opferhilfsgruppen, die sich mit Opfern rechtsradikaler Gewalt helfend beschäftigen, dann aufstellen.
Wir haben auch ein eigenes Kriterienbild entworfen. Ich komme ja aus dem kriminalpolizeilichen Staatsschutz und weiß natürlich auch nach kriminalistischen und rechtlichen Gesichtspunkten solche Taten zu bewerten. Also, das unterscheidet sich gar deutlich.
Deutschlandradio Kultur: Frage ich mal konkret den ehemaligen Kriminaloberrat: Sind Justiz und Polizei auf dem rechten Auge blind?
Bernd Wagner: Sie sind nicht auf dem rechten Auge blind, das wäre eine deutliche Überzeichnung des Problems. Hier wirkt sich eher aus die organisierte Verantwortungslosigkeit staatlichen Vollzugs in dieser Republik. Das ist ein System der grundsätzlichen Verantwortungslosigkeit bei hoher Rechtsstaatlichkeit.
Es scheint ein Widerspruch zu sein, ist in sich aber keiner. Das kann man beim Thema innere Sicherheit sehen, beim Komplex Nationalsozialistischer Untergrund. Überall wirkt sich die gleiche unheilige Psychologie des Systems aus, nämlich organisierte Verantwortungslosigkeit, systemische Anarchie zu erzeugen.
Deutschlandradio Kultur: Nehmen Sie eigentlich, weil das Stichwort NSU gerade fiel, irgendeine Veränderung wahr, sei es bei Polizei, Justiz oder auch bei den Aussteigewilligen, seitdem man weiß, dass da eine Gruppe mordend durchs Land zog, der Nationalsozialistische Untergrund? Oder ist das ein Parallelgeschehen, was keinen Einfluss hat?
Bernd Wagner: Der Nationalsozialistische Untergrund ist Fleisch vom Fleische der Bewegung, also der rechtsradikalen Bewegung, in seinem Gesamtzusammenhang, also nicht nur streng des ultramilitanten Teils. Sie sehen selbst, da sind NPD-Leute drin verwickelt. Dort sind Nazi-Skinheads verwickelt. Dort sind Rocker verwickelt. Da sind ganz optisch normal Erscheinende verwickelt. Also, alle Erscheinungsfacetten des Rechtsradikalismus haben dazu beigetragen, in irgendeiner Form den Nationalsozialistischen Untergrund zu formieren, zu unterstützen, geistig auszurichten, zu konzeptionalisieren.
Sie kommen aus der DDR, diese jungen Leute, damals junge Leute, als sie mit dem rechtsradikalen Weg anfingen. Es ging schon ein stückweit in der DDR los damit. Dann hat sich das über die frühen 90er Jahre fortgesetzt, ist dann de facto quasi vergesellschaftet gewesen mit NPD-Kadern, die auch im ultramilitanten Bereich drin waren. Und dann hat sich also daraus die terroristische Variante entwickelt, eine spezielle Form von Terrorismus, die der Staat natürlich auch nicht zu deuten wusste.
Deutschlandradio Kultur: Ist der Kampf gegen den Rechtsextremismus eigentlich vor allem ein Kampf um die jungen Leute, die ja in besonderer Weise von der rechten Szene umgarnt werden, etwa in Schulen und Vereinen?
Bernd Wagner: Auch. Ich würde sagen, auch. Ich halte es für einen zentralen Fehler, der seit Jahren abläuft, Rechtsextremismus, Rechtsradikalität ausschließlich auf die Jugend zu projizieren, das geradezu dann damit zu vereinseitigen, indem man sagt, wir machen jetzt Bildung, wir machen jetzt Sozialpädagogik und dann wird, wenn wir das also hinreichend dicht und hinreichend gut machen, das Problem erledigt sein. Das ist eine Illusion, die in den frühen 90er Jahren schon aufkam, übrigens auch schon in der DDR gab's diese Vorstellungen sehr merkwürdiger Art.
Und das hat natürlich dazu geführt, dass die gesamte Aufstellung des rechtsradikalen Blocks in der Bundesrepublik Deutschland nicht ernsthaft strategisch in den Blick genommen wurde. Das ist bis heute feststellbar. Und damit sind natürlich auch bestimmte Methoden, Formate, Strategien vereinseitigt.
Wir haben in den letzten Jahren seit Rot-Grün eine Verstaatlichung der Zivilgesellschaft zu erleben. Wir haben geradezu eine Projekte-Industrie gegen Rechtsextremismus aus dem Boden gestampft. Da wird viel Geld investiert. Da wird viel gemacht, aber dann sehr deutlich fokussiert auf die Jugend. Das ist natürlich sicherlich eine gute Investition, auch in Werte, Bildungen Jugendlicher zu investieren, aber das erfasst nicht das ganze Thema. Es erfasst nicht den gesamten Spektralbereich der notwendigen Auseinandersetzung mit dem System des Rechtsextremismus als Ideologie, als Kultur, als Bewegung, als Politik, als Parteien. Also, das gesamte Spektrum wird damit natürlich nicht erfasst.
Wir haben einen zweiten großen Schwerpunkt, der dann gesetzt wird, NPD-Verbot, auch für sich genommen vereinseitigt vom Ansatz her. Da ist viel zu tun an Strategiearbeit, diesen Blick wieder zu weiten und natürlich auf die Zukunft zu richten. Denn Rechtsextremismus, Rechtsradikalität als gesellschaftliche Verhaltensweise, als Denkweise ist ja noch lange nicht erledigt. Es ist ja nicht der alte Hitlerismus, der uns hier ständig im Hause steht, aus der Vergangenheit kommend, sondern die Zukunft wird uns vor Voraussetzungen stellen, denen wir mit dieser Art des Herangehens nicht begegnen können.
Deutschlandradio Kultur: Sie haben das Stichwort NPD-Verbot genannt. Sie sind, wenn ich das recht verstanden habe, für ein Verbot der NPD. Warum?
Bernd Wagner: Eben aus den Worten, die ich gerade sagte, als Investition in die Zukunft. Das reicht natürlich für ein Verbotsverfahren nicht aus juristisch. Das ist mir völlig klar.
Deutschlandradio Kultur: Denn wenn es schief geht, wieder schief geht mit dem NPD-Verbot, könnte das die Partei aufwerten. Das ist sicherlich unstrittig.
Ein anderes Argument derer, die sich scheuen, auch wenn sie die NPD furchtbar finden, diese Partei zu verbieten oder es zumindest zu versuchen: Denn die Zahl der Neonazis würde doch nicht automatisch geringer und damit die Gefahr nicht kleiner, nur wenn es diese Partei nicht mehr gäbe.
Bernd Wagner: Das ist unstrittig, dieses Argument ist aber für mich ein Leerargument, weil die Partei natürlich einer Bewegung, also, einer rechtsradikalen Bewegung, Sie merken schon, ich spreche nicht nur immer von Neonazis, sondern ich spreche von Rechtsradikalen, Rechtsextremisten. Das ist größer, weiter als Neonazis. Neonazis ist eine Strömung da drin. Und insofern, sage ich mal, ist dieses Argument nicht stichhaltig, weil es eben nicht nur um diese Neonazis geht. Es geht um die Partei, die es schaffen kann, momentan schafft sie es nicht, ein weites Feld von rechtsradikal gesinnten Menschen politisch zu formieren, gegen die Demokratie in Stellung zu bringen, was wir in anderen europäischen Ländern erleben. -
Denken Sie an Ungarn. Das ist ganz klar. Da sind Koalitionen plötzlich dann möglich politisch mit Rechtsextremisten. Auch andere demokratische Kräfte kippen an solchen Stellen um. Es gibt Brücken, politische Brückenstrukturen, die sich dann aktivieren.
Und dann haben wir de facto Zustände oder können Zustände bekommen, die eine klassische völkische Demokratie darstellen. Es geht hier nicht nur immer um so genannte faschistische Diktaturen, sondern um Lebenszusammenhänge, um politische und Kulturzusammenhänge, die die Freiheit, die menschliche Freiheit, die demokratische Freiheit nicht brauchen kann. Das Gebot der Freiheit der Demokratie, dazu ist Demokratie da, Freiheit zu sichern, wird dadurch verletzt, wenn völkische Demokratien entstehen. Und dieses Potenzial können rechtsextreme Parteien haben, solche gesellschaftlichen Zustände zu befördern, zeitweilig zu sichern und zu zementieren. Und das möchte ich persönlich nicht erleben.
Deutschlandradio Kultur: Ein letztes Wort in gebotener Kürze noch zu "Exit" selbst. Sie leben von Spenden und von staatlichen Geldern. Ist die finanzielle Zukunft von "Exit" eigentlich gesichert oder ist es immer so ein Leben auf der Kippe?
Bernd Wagner: Es ist ein Leben auf der Kippe. Man muss sich das vorstellen: Drahtseil zwischen zwei Häuserzüge gespannt, "Exit Deutschland" tanzt mit einem Regenschirm immer darauf rum. Also, es gibt keine Sicherheit. Politik ist nicht an dieser Art von Sicherheit für unsere Tätigkeit interessiert.
Deutschlandradio Kultur: Warum nicht? Sie haben über 400 Leute rausgezogen.
Bernd Wagner: Das nimmt man ja leider nicht wahr. Das sind, gemessen an dem, was wir erhalten haben, sind die Förderungen, die wir erhalten haben, also kleine Beträge. Also, wir haben Rückfälle erspart. Wir haben Opfern Leid erspart. Also, ich kann das also bis morgen früh noch fortsetzen, welche Vorteile aus einer Deradikalisierungsstrategie entspringen, auch aus dem Herausziehen von über 480 Leuten und natürlich weiteren Sachen, die da auch dran hängen. Das ist ja nicht nur die einfache Zahl 480 beispielsweise. Da hängt ja immer noch sehr viel mehr an sozialer Investition dran.
Also, das wird nicht gewertschätzt. Deswegen zweifle ich auch, auch meine Kolleginnen und Kollegen zweifeln an der Ernsthaftigkeit, an der sittlichen Reife von Politik an der Stelle.
Deutschlandradio Kultur: Kein schönes Schlusswort, aber ein Schlusswort. Ganz herzlichen Dank, Herr Wagner.