Auch Jeff Jarvis schaut Pornos - öffentlich

Von Markus Reiter · 09.09.2012
Der amerikanische Internet-Guru Jeff Jarvis fordert eine freiwillige Öffentlichkeit privaten Handelns. Von den persönlichen Erfahrungen einzelner könnten schließlich viele profitieren.
Hier spricht der amerikanische Internet-Guru Jeff Jarvis über seinen Penis sowie über die Folgen einer Prostata-Operation für seine Potenz. Wer um die Prüderie weiß, mit der in den USA über Sexualität gesprochen wird, mag erahnen, welchen Tabubruch dieses Bekenntnis darstellt. Jarvis verfolgt mit seiner Freizügigkeit natürlich ein Programm. Nicht nur, dass er eine hohe Aufmerksamkeit auf sich zieht, die ihm als hoch bezahlten Redner auf zahlreichen Medienkongressen zupass kommt. Er unterstreicht damit seine zentrale These: Privatsphäre, ja sogar Intimsphäre - das seien Konzepte von gestern. In der Welt des Internets profitierten alle davon, wenn wir sämtliche Informationen über unser Leben mit anderen Menschen teilten, so seine Überzeugung.

Zum Beispiel hätten zahlreiche Männer mit Prostatakrebs davon profitiert, dass er alle Details seiner Operation und seiner Befindlichkeit danach in seinem Blog und via Twitter der Welt mitgeteilt habe. Umgekehrt hätten ihm, Jarvis, die öffentlichen Ermunterungen und Ratschläge dabei geholfen, mit seinem Schicksal zurechtzukommen. Die radikale Öffentlichkeit erweise sich in diesem und in vielen anderen Fällen als Segen für die Menschheit.

Datenschützer, besonders diejenigen aus Deutschland, tauchen in Jarvis' Buch nur als quengelnde Spielverderber auf, als tumbe Technikfeinde, die die neuen Spielregeln des Internets nicht verstanden hätten, oder als Berufslobbyisten, die damit ihren gesellschaftlichen Einfluss sichern.

"Datenschutz ist ein Riesengeschäft. Bei diesen Konferenzen treffe immer dieselben Leute: Anwaltsorganisationen, die Bedenken erheben und Geld einsammeln; Abgeordnete, die Gesetze machen, und Bürokraten, die Vorschriften erlassen; Internetberater, die den Firmen helfen, diese Vorschriften einzuhalten; Anbieter von Internetdiensten die den Leuten versprechen, ihre Privatsphäre zu schützen."

Der deutsche Verlag hat dem Buch den Titel "Mehr Transparenz wagen!" gegeben. Das spielt auf Willy Brandts Slogan "Mehr Demokratie wagen!" von 1969 an. Der Titel des Buchs verweist Jarvis' Ideen scheinbar in die gesellschaftliche und politische Sphäre. Der Ruf nach Transparenz in diesen Bereichen träfe in Deutschland auf ein fast einhellig positives Echo. Wer plädiert schon für Intransparenz in Politik und Wirtschaft?

In Wirklichkeit befasst sich der Autor aber nur zum geringeren Teil mit der Öffentlichkeit staatlichen Handelns. Stattdessen kritisiert die mangelnde Bereitschaft jedes einzelnen, private Informationen publik zu machen. Vor allem in Deutschland. Mehrfach mokiert sich der Autor über verpixelte Häuser bei Google-Street-View, weil irgendwelche egoistischen deutschen Hausbesitzer der Öffentlichkeit einen Blick auf ihre Heimstatt verweigern wollten. Welches Recht hätten diese Leute dazu, fragt Jarvis. Und setzt dem wörtlich entgegen:

"Was öffentlich ist, gehört uns, der Öffentlichkeit."

Seine Beobachtungen gipfeln anekdotisch im von ihm so bezeichneten "deutschen Paradoxon", das er anlässlich eines Besuchs in einer Münchner Sauna erlebte:

"Männlein und Weiblein laufen völlig nackt herum und schwitzen und schwimmen zusammen. Was für mich ein Hinweis war, dass die deutschen zwar ihre Privatsphäre, nicht jedoch unbedingt ihren Intimbereich sakrosankt halten. Das ist mehr als eine billige Pointe. Dahinter steht eine grundsätzliche Frage, die alle angeht: Warum ist das Private privat? Und warum ist das Öffentliche öffentlich? Wenn wir darüber reden, bleibt es uns nicht erspart, unsere kulturellen Konventionen zu überprüfen, um festzustellen, was sie über uns und unsere Einstellungen zur Privatsphäre aussagen."

Da muss der amerikanische Besucher etwas missverstanden haben: Hätte Jarvis in der Sauna seine Handykamera gezuckt, die nackten Deutschen fotografiert und diese Fotos auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht, er hätte schnell erfahren, dass den meisten Deutschen sehr wohl auch ihre Intimsphäre wichtig ist.

Ein Recht, über solche Sauna-Fotos zu meckern, dürfte er den Betroffenen konsequenterweise nicht zugestehen. Der Autor verfichtt nämlich eine radikale Position. Die Privatsphäre sei eine Erfindung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, führt er aus. Eine Reaktion der Gesellschaft auf das neue Medium der Fotografie und auf die Massenpresse, in der Fotos von arglosen Menschen veröffentlicht worden seien, und also eine Form der Technikfeindlichkeit. In Wirklichkeit sei es der Einzelne der Gesellschaft schuldig, öffentlich zu leben. Dabei übersieht Jarvis, dass wir in der Öffentlichkeit nicht agieren, wie wir sind, sondern wie wir gesehen werden wollen.

Der französische König im Absolutismus, den der Autor an einer Stelle erwähnt, hatte keine Privatsphäre. Sogar in seinem Schlafzimmer musste er dem höfischen Zeremoniell folgen und das Königtum repräsentieren. Wollen wir wirklich - jeder von uns - ein solches Leben unter den Augen der Öffentlichkeit führen? Da hat selbst Jarvis seine Zweifel. Er spricht davon, was er gerne für sich behalten möchte:

"Ich bin nicht besonders scharf darauf, dass Sie mir zuschauen, wenn ich im Web surfe. Dass ich mir Pornos ansehe, leugne ich nicht. Aber welcher ehrliche Mann ist schon keusch? Und wo das jetzt schon mal aus dem Weg ist - warum sollte ich meinen Browserverlauf mit Ihnen teilen? Im Zweifelsfall würden Sie nur falsche Schlussfolgerungen ziehen, wie Sie die Zusammenhänge nicht kennen, und ich könnte Sie nicht mal korrigieren."

Pech nur, dass Google, Facebook und all die anderen Websites mit den kleinen Cookies, die er an anderer Stelle in höchsten Tönen lobt, seinen Browserverlauf verdammt gut kennen - und damit ihre guten Geschäfte machen.

Jeff Jarvis hat mit "Mehr Transparenz wagen!" eine zwar lesenswerte Streitschrift geschrieben, die durchaus gute Argumente für eine freiwillige Öffentlichkeit privaten Handelns vorbringt. Die Inkonsequenz seines eigenen Handelns zeigt aber die Grenzen dieser Idee.

Jeff Jarvis: Mehr Transparenz wagen!
Wie Facebook, Twitter & Co. die Welt verändern

Quadriga-Verlag
Das gebundene Buch erscheint im Oktober.
Das E-Book-Ausgabe ist bereits erhältlich.
Buchcover "Mehr Transparenz wagen!" von Jeff Jarvis
Buchcover "Mehr Transparenz wagen!" von Jeff Jarvis© Quadriga-Verlag