Der Tag der Selbstgeißelung
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Es gibt sie noch: Gläubige, die sich selber blutig geißeln. Die Aschura-Rituale im Iran sollen an die Schlacht von Kerbela und das Leiden der Schiiten erinnern. Sie sind aber auch ein Symbol des Widerstands gegen staatliche Unterdrückung.
Wer im islamischen Trauermonat Muharram nach Iran fährt, dem fallen besonders die zahlreichen schwarzen Fahnen auf, die überall in der Öffentlichkeit zu sehen sind. Sie sollen an die Schlacht von Kerbela erinnern, in der einst der dritte schiitische Imam Hussein, Enkel des Propheten Mohammed, als Märtyrer starb. Die kriegerische Auseinandersetzung im Jahr 680 markiert das gewaltsame Auseinanderbrechen der jungen muslimischen Glaubensgemeinschaft in die damals siegreichen Sunniten und die unterlegenen Schiiten.
Symbol des Widerstands
Hier in Iran, wo mehrheitlich Schiiten leben, hat deshalb Imam Hussein im religiösen Leben eine wichtige Bedeutung – vor allem sein Todestag. Dieser wird am zehnten Tag des Trauermonats Muharram zelebriert – an Aschura, wie ein älterer Mann aus Teheran erklärt, der über dieses politisch aufgeladene Thema lieber nur anonym sprechen will:
"In der schiitischen Kultur spielt Imam Hussein eine sehr wichtige Rolle und Aschura ist tief in die Seelen der Menschen eingedrungen. Imam Hussein ist der Schutzengel der Unterdrückten. Die Menschen achten nicht besonders auf die historischen Tatsachen von Aschura. Es ist eher die Projektion eines Heiligen. Er ist auch in ihrem Alltagsleben präsent. Denn je mehr sie Druck bekommen, ob durch den Staat oder andere Instanzen, desto mehr suchen sie Schutz bei Imam Hussein. Aschura ist also ein symbolisierter Widerstand gegen Unterdrückung."
Die Kraft der Selbstgeißelung
An vielen Orten in Iran gehen die schiitischen Gläubigen an Aschura auf die Straße und vollziehen lange Trauerriten zum Andenken an ihren Märtyrer. Sie tanzen gemeinschaftlich zu rhythmischer Musik, weinen zu den Erzählungen über die Schlacht von Kerbela, schlagen stakkatohaft an ihre Brust und peitschen sich sogar mit Eisenketten auf den eigenen Rücken.
Die Aschura-Rituale in Iran sind von großer spiritueller Bedeutung, denn sie haben sowohl einen gemeinschafts- als auch einen glaubensbildenden Charakter. Dies gilt nicht nur für das Tanzen und Weinen, sondern auch für das Malträtieren des eigenen Leibes. Denn gerade die Selbstgeißelung an Aschura ist ein Zeichen schiitischer Glaubensidentität, sagt Hamideh Mohagheghi, islamische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn:
"Selbstgeißelung ist Andenken an Imam Hussein, den dritten Imam, der so viel leiden musste und umgebracht wurde. Man will praktisch die Liebe zum dritten Imam auf diese Art und Weise – die Schmerzen, die man sich selbst zufügt – nachfühlen. Allerdings viel später, als die Schiiten in der Minderheitenrolle sehr viel Leid ertragen mussten, haben sich dann solche Traditionen entwickelt, um auch dieses eigene Leid dadurch zum Ausdruck zu bringen."
Offiziell ist die öffentliche Selbstverletzung verboten
Die spirituelle Kraft von Aschura wurde immer wieder auch politisch instrumentalisiert. So wurde die Schlacht von Kerbela und ihre Bedeutung beispielsweise in den letzten Jahren unter Schah Reza Pahlavi zu einem wichtigen öffentlichen Impuls, erklärt Mohagheghi:
"Das hat man in der Zeit vor der Revolution in Iran – Mitte des 20. Jahrhunderts – auch gesehen. Um die Menschen zu mobilisieren, wurden diese Slogans sehr stark: ‚Jeder Tag ist Aschura, jeder Ort ist Kerbela.‘ Um einfach zu zeigen, eure Situation in diesem Land ist auch vergleichbar. Ihr müsst auch unter dem Schah so viele Leiden ertragen, jetzt steht auf und bewegt euch."
Nach der Islamischen Revolution behielt das Aschura-Fest seine wichtige Stellung in Iran. Zwar verbot Ayatollah Khomeini offiziell öffentliche Selbstgeißelungen, woran sich allerdings nicht alle Iraner halten. Die Trauerriten sowie der Mythos von der leidenden Minderheit der Schiiten sind wichtiger Bestandteil des geistlich-politischen Lebens geblieben.
Aschura ist auch ein Geschäft
Hinzu kommt, dass die Prozessionen zu Aschura – inklusive Essen und Trinken für sozial Schwache – bis heute mit Geldern aus der Staatskasse gefördert werden. Entsprechend sagt dieser ältere Teheraner:
"Aschura ist inzwischen wie viele andere religiöse Anlässe zu einem Geschäftszweig geworden. Viele leben davon und verdienen dadurch ihren Unterhalt. Daher sind noch viele Leute geneigt, an den Prozessionen und Versammlungen teilzunehmen, und dies trotz der Aufforderung durch die Regierung und sogar religiöse Autoritäten, zu Hause zubleiben. Es ist einfach schwer zu sagen, ob diese Menschen wirklich aus ihrer tiefen Gläubigkeit diese Prozessionen veranstalten oder weil sie dadurch auch Geld verdienen."
Die spirituelle Bedeutung hat abgenommen
Der Zuspruch zu den Aschura-Feierlichkeiten ist jedoch in den mehr als 40 Jahren seit der Islamischen Revolution kontinuierlich gesunken. Die religiösen Riten scheinen, an Ausdruckskraft verloren zu haben. Dazu zählen auch die Selbstgeißelungen, erläutert Hamideh Mohagheghi:
"Diese spirituelle Beziehung, die die Menschen dazu hatten, hat sehr stark abgenommen. Aschura hat durchaus weiterhin eine große Bedeutung. Die Menschen begehen das sehr ruhig, dass man für die Bedürftigen Essen verteilt, ihnen zugewandt ist. Aber dieses Sich-selbst-Verletzen findet nicht mehr so verbreitet statt in Iran, wie es früher war."
Hinzu kommt, dass auch das Coronavirus am religiösen Selbstverständnis der Islamischen Republik genagt hat. Denn die erste Welle der Pandemie ging von der Theologenhochburg Qom aus. Außerdem gab es Streit zwischen den Mullahs und der staatlichen Gesundheitsbehörde, ob die stark besuchten Heiligenschreine sowohl in Qom als auch in Maschad geschlossen werden sollten.
Dennoch ist damit zu rechnen, dass im kommenden August, wenn wieder Aschura ist, in manchen Ecken des großen Landes wieder Menschen Trauerrituale im Andenken an Hussein veranstalten werden – Selbstgeißelungen nicht ausgeschlossen.