"Buße zu tun für dieses kollektive Versagen"

Katajun Amirpur im Gespräch mit Anne Françoise Weber |
Das islamische Aschura-Fest kennen Deutsche wohl vor allem wegen der Bilder über sich selbst geißelnde Männer in den Straßen. Das Fest wird besonders von Schiiten gefeiert. Ausschreitungen, wie es sie in vergangenen Jahren gab, erwartet die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur aber in diesem Jahr weniger.
Anne Françoise Weber: Weltweit feiern Muslime und ganz besonders die Schiiten am kommenden Montag das Aschura-Fest. Aschura kommt vom arabischen Wort für zehn, es fällt nämlich auf den zehnten Tag des islamischen Monats Muharram. Die Schiiten gedenken dann des Todes von Hussein, dem Enkel des Propheten Mohammed bei der Schlacht von Kerbela im Jahr 680. Ich habe vor der Sendung mit Katajun Amirpur gesprochen. Die Islamwissenschaftlerin ist seit Kurzem Professorin für islamische Studien und Theologie an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Ihr Vater stammt aus dem Iran, und dort hat sie auch eine Zeitlang selbst islamische Theologie studiert. Ich habe Katajun Amirpur zunächst gefragt, was in Teheran denn genau zum Aschura-Fest passiert?

Katajun Amirpur: Nun, es gibt Büßerprozessionen in der Stadt wie auch in vielen anderen Teilen des Landes. Seit einiger Zeit sind die Selbstgeißelungen verboten, das war eigentlich mit der wesentliche Bestandteil dieses Tages. Früher sind wirklich Büßerprozessionen durch die Straßen gezogen, und dann haben sich die Männer mit schweren Ketten gegeißelt, und man geißelt sich dafür – um das kurz zu erklären – an diesem Todestag, oder in dem Todeskampf, den Hussein ausgefochten hat, da sollten ihm eigentlich seine Getreuen zur Hilfe eilen. Er wurde nach Kerbela gerufen von seinen dortigen Anhängern, um den Kampf aufzunehmen gegen den Usurpator, und als er dann dort war, haben die Leute, die ihn gerufen haben, ihn dort im Stich gelassen.

Und um quasi Buße zu tun für dieses kollektive Versagen, das die Schiiten sich dann zuschreiben, sind bis vor wenigen Jahren die sich selbst geißelnden Büßerprozessionen durch die Straßen gezogen. Das ist verboten worden vor einigen Jahren in Iran. Ayatollah Khamenei, der religiös-politische Führer Irans, hat gesagt, das sei nun wirklich zu brutal und es sei – wie er dann formuliert hat – auch gerade dem Ausland gegenüber nicht zu vertreten, dass man das macht. Da würde man dann als sehr barbarisch und mittelalterlich dastehen. Deswegen ist es verboten, aber es gibt das, glaube ich, nach wie vor in einigen Landesteilen Irans. Also das ist so der zentrale Bestandteil dieses Tages.

Es geschieht aber den ganzen Monat über, also der Trauermonat Muharram ist eigentlich voll von verschiedenen Festen und Anlässen zum Gedenken an diese Schlacht, die damals stattgefunden hat. Es gibt dann auch abends sehr viele öffentliche Rituale, oder man trifft sich in Moscheen, in auch zum Teil privaten Räumen, wo es dann Predigten gibt, oder wo einfach Nächte des Gedenkens stattfinden. Was es auch noch relativ häufig gibt und viel gibt, sind Theaterstücke, die aufgeführt werden, also die sogenannte Ta‘ziya ist ein fester Bestandteil dieser Riten, und dort wird in theatralischer Form nachgespielt, was damals passiert ist.

Weber: Und das sind fast eine Art Passionsspiele, das erinnert doch wirklich sehr an die christliche Passionszeit, die Rolle des Blutes und Passionsspiele, und diese Selbstgeißelung ist durchaus auch im Christentum vertreten gewesen. Gibt es da irgendwie einen Hinweis auf christliche Einflüsse, weiß man da was?

Amirpur: Nein, das weiß man nicht so genau, ist eventuell vermutbar, es gibt aber auch alte iranische Traditionen, die noch weiter zurückgehen und wo man eher denkt, dass der Einfluss stattgefunden hat. Aber das ist diesen Passionsspielen durchaus absolut vergleichbar. Und es ist, nebenbei bemerkt, quasi das wirklich eigene iranische Theater, was da entwickelt wurde. Also in den 60er-Jahren sind Theatermacher aus dem Westen wie Peter Brook nach Iran gegangen und haben gesagt: Das ist ein ganz eigenständiges iranisches Theater, was dort gemacht wird, was aber ganz viele interessante Bestandteile hat.

Auch dieses kathartische Moment, was dort geschieht während der Passionsspiele, oder auch der Verfremdungseffekt, den das Ganze hat. Denn zum Beispiel um den Fluss Euphrat zu symbolisieren, an dem das Ganze stattgefunden hat, wird dann ein Eimer Wasser dort hingestellt, und zum Teil schlüpfen die Schauspieler in andere Rollen, also es findet sehr viel an Verfremdungseffekten statt, und das ganze ist, wie Peter Brook damals wirklich eindrücklich beschrieben hat in verschiedensten Aufsätzen – auch für westliche Theatermacher sehr sehr eindrücklich und interessant gewesen.

Weber: Frauen spielen in der Geschichte von Kerbela ja auch eine große Rolle, weil eben die Schwester und die Tochter von Hussein bei der Schlacht dann in Gefangenschaft gerieten und dem Usurpator, dem Kalifen Yazid, vorgeführt worden und ihm auch ganz kräftig die Stirn geboten haben. Wie ist das denn heute? Spielen die Frauen auch in den Trauerfeierlichkeiten eine große Rolle?

Amirpur: Also in den traditionellen Trauerfeierlichkeiten spielen sie da nicht mit. Sie werden dann durch Männer dargestellt. Sie sitzen natürlich im Publikum, aber sie haben ja selber insofern in dem Stück an sich keine tragende Rolle, bei den Passionsspielen nicht. Wo sie dann wieder eine Rolle haben, ist bei den Predigten oder den Nächten der Andacht, die stattfinden, da gibt es auch ganz viele weibliche Predigerinnen, die dann für Frauen predigen, und da sitzt man wirklich die halbe Nacht dann zusammen und rekapituliert diese Geschehnisse, erinnert sich da gemeinsam dran und versucht in dem gläubigen Gegenüber, der dort vor einem sitzt, die größtmögliche Reaktion hervorzurufen. Also nach schiitischem Volksglauben ist es so, dass jeder Gläubige in seinem leben viele Tränen vergossen haben muss, auf dass er dann ins Paradies komme, und um wirklich Buße getan zu haben dafür, dass man damals nicht da war.

Weber: Das Fest wurde ja auch immer wieder politisch verstanden, eben als Aufstand der rechtmäßigen Nachkommen gegen den Despoten. Im Iran führten ja auch Proteste zur Aschura letztlich zum Sturz des Schah, und auch die Proteste nach den Wahlen 2009 hatten noch mal so einen Höhepunkt zur Aschura. Erwarten Sie irgendwo schiitische Proteste, sei es im Iran oder in Bahrein, wo es ja auch um die Rolle der Schiiten geht, oder im Irak?

Amirpur: Also vielleicht noch eher in Bahrein, es ist allerdings schwer einzuschätzen, wie da die Staatsmacht im Moment ist in der Lage, durchzuschlagen, denn die Schiiten haben da nun wirklich verstärkt versucht zu protestieren in den letzten Monaten. Aber die Staatsmacht ist da auch sehr gewalttätig gegen vorgegangen. Man kann schlecht einschätzen, inwieweit sich die das jetzt wirklich trauen im Moment.

In Iran war es 2009 so, dass da noch mal es einen massiven Proteststurm gab. Es gab ja die Wahl 2009, wo sehr viele Proteste stattfanden, die sind dann brutal niedergeschlagen worden, dann gab es einige Wochen eher wenig Proteste, weil die Leute sich nicht getraut haben, und dann ist aber 2009 Aschura zusammengefallen mit dem zehnten Todestag der religiösen Autorität, die damals die Proteste unterstützt hat, Ayatollah Montazeri, und das hat damals natürlich noch mal zu einem massiven Aufflammen der Proteste geführt.

Aber auch damals sind sie massiv niedergeschlagen worden. Ich glaube, dass die iranische Staatsmacht sehr stark vorbereitet sein wird auf diesen Tag, denn natürlich wissen auch die, dass der schiitische Festtagskalender für die potentiellen Protestierenden ein guter Anlass sein könnte, und in den vergangenen Monaten war es so, dass immer, wenn man sich ausrechnen konnte von staatlicher Seite her, dass es Proteste geben wird, dass dann die Staatsmacht so viel an Milizen aufgefahren hat und an Armee in den Straßen, dass sich die Menschen nicht mehr getraut haben, irgendwas noch zu machen. Also insofern glaube ich eher nicht, dass es dazu kommt, aber andererseits weiß man es ja nicht.

Weber: Wenn wir jetzt mal nach Deutschland blicken, hier sind immerhin rund sieben Prozent der Muslime laut einer Studie des Bundesinnenministeriums Schiiten, wie feiern die denn Aschura? Gibt es da auch diese Trauerfeiern, oder gar Prozessionen irgendwo?

Amirpur: Die meisten der hier lebenden Schiiten sind Iraner. Das ist nun nicht gerade ein Teil des iranischen Volkes, die noch sehr, sehr religiös sind, das sind schon wesentlich sehr stark säkular denkende Iraner. Viele Leute, die auch eben gerade, weil sie nicht in einem religiösen Regime leben wollten, nach Deutschland gekommen sind. Hier ist einfach häufig die Bindung zur Religion nicht so besonders stark – deutlich weniger stark als bei Iranern, die in Iran sind. Aber das gilt andererseits natürlich auch nicht für alle. Es gibt Ausnahmen …

Weber: Es gibt auch schiitische Libanesen, die ziemlich religiös sein können.

Amirpur: Natürlich gibt es auch unter den Iranern durchaus religiöse Schiiten, und das Zentrum der deutschen Schiiten ist die Imam-Ali-Moschee in Hamburg. Da finden jetzt in diesen Tagen alle möglichen Veranstaltungen statt. Es finden Nächte der Andacht statt, es gibt da verschiedene Predigten, und es wird dann auch am Montag dort eine Festivität, eine Feierlichkeit stattfinden anlässlich des Aschura-Tages.

Weber: Über Islam in Deutschland wird ja ziemlich viel gesprochen, über Schiiten in Deutschland doch deutlich weniger. Es findet sich ja unter den großen bekannten Islam-Verbänden keiner mit schiitischem Hintergrund. Werden die Schiiten jetzt auch bei der Einrichtung von neuen Lehrstühlen für islamische Theologie zu wenig berücksichtigt? Vielleicht mal abgesehen von Ihrer Person, die Sie jetzt einen Lehrstuhl bekommen haben. Und wie ist das beim islamischen Religionsunterricht? Wird es da auch eine schiitische Variante geben?

Amirpur: Man müsste noch mal schauen, wie sich das entwickelt. Es sind ja noch nicht alle Professuren besetzt für islamische Theologie. Also es werden jetzt zum Beispiel in Erlangen noch drei Professuren besetzt, und insofern könnte man jetzt durchaus mal argumentieren, es wäre auch Zeit, dass man da noch mal jetzt einen Schiiten setzt.

Weber: Wenn wir auf Aschura zurückkommen, das ist durchaus auch ein Festtag oder zumindest ein Fastentag für Sunniten, es wird überliefert, dass Moses an diesem Tag gefastet haben soll und dass da ganz wichtige Dinge geschehen sind, zum Beispiel, dass Noah da das erste Mal aus der Arche kam nach der Sintflut und eben eine Suppe gegessen hat. Deswegen gibt es auch diese Aschurasuppe. Wie ist das? Ist dann Aschura doch ein verbindendes Fest für Sunniten und Schiiten, gerade vielleicht hier in Deutschland in der Diaspora, oder ist es ein Fest, wo man die Gegensätze herausstellt, weil es eben diese konfliktreiche Geschichte von Kerbela gibt.

Amirpur: Schwierig zu sagen, also vielleicht könnte es in der Diaspora zu einem einigenden Fest werden, was ich aber nicht glaube, dass es im Moment geschieht. Also ich glaube, es ist tatsächlich eher ein Fest, wo Schiiten daran erinnert werden, was die Sunniten ihnen angetan haben, um das mal so ein bisschen platt zu formulieren.

Insofern denke ich eher nicht, dass es das ist. Auch in der islamischen Welt kommt es da sehr, sehr häufig in den Ländern, wo sehr viele Sunniten und sehr viele Schiiten nebeneinander leben, da kommt es sehr, sehr häufig zu Ausschreitungen, weil eben an diesem Tage doch auch eine sehr starke Polemik gefahren wird gegen die aus sunnitischer Sicht rechtgeleiteten Kalifen, die aus schiitischer Sicht eben nicht rechtgeleitet waren. Also da kommt es eher zu Ausschreitungen und Zusammenstößen, als dass man das in irgendeiner Form als einigendes Band sieht. Da ist man eher froh, wenn die Aschuraprozessionen glimpflich ausgehen, ohne dass da etwas passiert.

Weber: Mit der Ausschreitung ist hier in Deutschland sicher nicht zu rechnen, aber wahrscheinlich ist einfach dieses Erbe, was aus den Herkunftsländern mitgebracht ist, dann doch das Prägende und nicht unbedingt das verbindende Erbe des gemeinsamen Fastentags. Herzlichen Dank, Katajun Amirpur, Islamwissenschaftlerin und Professorin für islamische Studien und Theologie an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg.


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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