Arturo Escobar zu internationaler Zusammenarbeit

Gegen Hunger in der Welt hilft keine "Entwicklungspolitik"

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Eine Illustration zeigt Hände, die einen halben Globus in Form einer Schale halten.
Wie kommt der Hunger in die Welt? Arturo Escobar meint: Das Konzept der "Entwicklung" selbst ist schuld. © imago / Ikon Images
Von Sophia Boddenberg · 03.03.2019
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"Entwicklungs-Politik" bestimmt seit langem die internationale Zusammenarbeit. Doch damit geht oft die Bevormundung der Betroffenen einher. Um das zu ändern, müssen wir die Idee der Entwicklung selbst überwinden, meint der Anthropologe Arturo Escobar.
Arturo Escobar trägt eine Brille mit schwarzem Rahmen und ein Kragenhemd, das er nicht in die Hose gesteckt hat. Seine langen, hellgrauen Haare sind leicht gewellt und fallen locker auf seine Schultern. Er ist 67 Jahre alt, weltweit als Anthropologe und Entwicklungskritiker bekannt und lehrt als Professor an der University of North Carolina in den USA, wo er auch promoviert hat. Begonnen hat er seine akademische Laufbahn mit einem Chemie-Studium und einem Master der Ernährungswissenschaften. Wie er von Ernährung zur Entwicklungskritik kam?

Von Ernährungswissenschaft zur Entwicklungskritik

"Ich habe gemerkt, dass der Hunger in der Welt nicht einfach mit dem Mangel an Nahrungsmitteln zu tun hat, sondern mit einem wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problem. So kam ich zum Thema Entwicklungspolitik. Als ich anfing, mich mit der Idee der Entwicklung zu beschäftigen, habe ich gemerkt, dass es nicht nur darum geht, dass Lateinamerika arm ist und sich entwickeln muss. Der Entwicklungsdiskurs ist wie ein Apparat, der Lateinamerika mit Kategorien der kapitalistischen, patriarchalen, westlichen Welt erfunden hat."
International bekannt geworden ist Escobar mit den beiden Büchern "Die Erfindung der Dritten Welt" aus dem Jahr 1996 und mit "Die Erfindung der Entwicklung" von 2014. Darin analysiert er, wie internationale Institutionen und die Regierungen der Industriestaaten den Entwicklungsdiskurs als Herrschaftsinstrument gegenüber den ärmeren Ländern verwenden.
Dabei zeige sich, dass Entwicklung als unilinearer Prozess verstanden wird, der überall auf der Welt nach einem vergleichbaren Schema abläuft, wobei am Ende dieses Prozesses die hochentwickelte Industriegesellschaft nach westlichem Vorbild steht.

Alternativen zur Entwicklung statt alternative Entwicklung

Die erste radikale Kritik am vorherrschenden Entwicklungsparadigma in Lateinamerika kam von Seiten der sogenannten "Dependenztheorie" in den 60er und 70er Jahren. Ihr zufolge sind nicht in erster Linie wirtschaftliche, soziale und politische Faktoren innerhalb der Länder für ihre "Unterentwicklung" verantwortlich, sondern ihre wirtschaftliche Abhängigkeit von den westlichen Industrieländern.
Zum Beispiel hätten die Kredite von Weltbank und Internationalem Währungsfond einen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeitsstrudel in Gang gesetzt. Heute, meint Escobar, muss man aber noch einen Schritt weitergehen:
"Die Dependenzdebatte war eine starke Gegenantwort zur kapitalistischen Entwicklung und zur liberalen Modernisierungstheorie von Seiten der USA, Europa und der Weltbank. Aber die Dependenztheorie hielt weiter an der Entwicklung an sich fest: An der sozialistischen statt kapitalistischen Entwicklung."
Escobar spricht deshalb nicht von alternativer Entwicklung, sondern von Alternativen zur Entwicklung. Die seien zum Beispiel bei sozialen Bewegungen, lokalen Kulturen und indigenen Völkern zu finden.
"Es geht nicht um Alternativen innerhalb des Paradigmas, sondern außerhalb des Paradigmas. Heute wissen wir, dass das Konzept des Buen Vivir, des Guten Lebens, eine Alternative zur Entwicklung ist. Deshalb wird es auch als neues Paradigma bezeichnet. Die Staaten haben es "rekolonialisiert" und jetzt steht es in Bolivien und Ecuador in der Verfassung."

Pluriversum - eine Welt, in die viele Welten passen

Das Buen Vivir, zu Deutsch das Gute Leben, ist ein Konzept der indigenen Andenvölker, das auf ein Leben im Einklang mit der Natur abzielt und Kategorien wie Wirtschaftswachstum und Fortschritt infrage stellt. Escobar fordert keinesfalls, diese Art von Konzepten in die ganze Welt zu exportieren, sondern er träumt von einer Welt der Vielfalt und Diversität: vom Pluriversum, statt vom Universum.
"Die indigenen Völker, lokalen Gemeinden und sozialen Bewegungen sind uns weit voraus dabei, zivilisatorische Veränderungen zu denken. Ich nenne es das Pluriversum – eine Welt, in der es viele Welten gibt, wie die Zapatisten sagen. Das heißt nicht, dass die Universitäten, Institutionen und Staaten unwichtig sind, aber sie sind unzureichend und müssen sich stärker mit der Natur und mit den lokalen Völkern verbinden, um wirklich einen Beitrag zu den Veränderungen zu leisten."

Hoffnung durch Wiederaufbau

Kritiker werfen den Vertretern des Post-Development-Ansatzes vor, lokale Kulturen und Gemeinschaften zu romantisieren und alles Westliche und Moderne zu dämonisieren. Escobar schlägt deshalb vor, die Welten zu verbinden. Aber dafür müssten die durch das westliche Entwicklungsparadigma zerstörten Welten wiederaufgebaut werden.
"Wir können nicht einfach die Vergangenheit löschen und von vorne anfangen. Wir haben 500 Jahre Zerstörung unserer Welten hinter uns. Bei dieser schmerzhaften Geschichte müssen wir anfangen, diesen Schmerz und die Hoffnungslosigkeit in Autonomie und Hoffnung zu verwandeln."
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