Armut in Silicon Valley

Von Jan Tussing · 04.08.2011
Das kalifornische Silicon Valley gilt als die Traumfabrik der Ingenieure: Die Region südlich von San Francisco, wo Studenten dank ihrer Ideen zu Milliardären wurden und Internetschmieden wie Facebook und Google in den Himmel wachsen. Aber die Wirtschaftskrise ist nicht spurlos an Silicon Valley vorübergegangen.
Obwohl seit Kurzem wieder eine relativ gute Stimmung unter den Unternehmern herrscht, und vor allem in den Bereichen der sozialen Netzwerke und der erneuerbaren Energien Millionenumsätze gemacht werden, steigt die Armut. Fast zehn Prozent aller Beschäftigten in der Region sind arbeitslos und die Zahl der Hilfsbedürftigen liegt bei 250.000.

Während die Regierung die Hilfsprogramme zusammenstreicht, wächst die Zahl der Hungrigen, die von privaten Organisationen versorgt werden müssen.

Bill Medley lebt seit 1985 im kalifornischen Silicon Valley, und hat gutes Geld verdient. Vor zwei Jahren hat der 61-Jährige aber seinen Job verloren. Dann seine Wohnung und schließlich seinen Stolz. Als er das erste Mal für Nahrungsmittel anstand, musste er heulen.

Bill Medley: "Ich habe viele Emotionen in mir angestaut, ich bin eh sehr emotional, als ich zur Nahrungsmittelbank kam, habe ich angefangen zu heulen, so wie jetzt, ich denke, das ist eine Sache des Stolzes, aber ich dachte, wie tief bin ich doch gefallen."

Noch immer steckt dem ehemaligen Hausverwalter die traumatische Erinnerung in den Knochen. Auf einem Stuhl sitzt er leicht untersetzt mit freundlichem Gesicht. Für die Veranstaltung heute ist er trotz Hitze schick gekommen, im Sakko und weißem Hemd.

Bill Medley: "Ich bin tief gesunken, vor zwei Jahren habe ich noch eine Kreuzfahrt um die Welt gemacht. Das hat mich fast 100.000 Dollar gekostet, da sieht man, wie tief ich gesunken bin, jetzt hier um Nahrungsmittel zu betteln, das ist eine große Veränderung für mich."

Silicon Valley ist eine der reichsten Regionen der Erde. Apple, Google und You-tube, Facebook, Twitter, Skype und Linked-in. Viele der globalen Internetschmieden und Technologieunternehmen erwirtschaften jährlich Milliarden. Und dennoch leben zehn Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, sagt Kathy Jackson von der 2nd harvest food bank. Ihre Hilfsorganisation verteilt Nahrungsmittel an Bedürftige.

Kathy Jackson: "Vor 20 Jahren kamen 90.000 Menschen zu uns. Heute sind es eine Viertel Million."

In den Regionen San Mateo und Santa Clara County leben 2,5 Millionen Menschen. Jeder zehnte von ihnen geht abends hungrig ins Bett. Ist das das neue Bild von Silicon Valley?

Kathy Jackson: "Du würdest es nicht von Silicon Valley erwarten und es bringt dich dazu unsere Gemeinde in neuem Licht zu sehen. Du denkst nicht nur an einen Ort, wo Millionäre gemacht werden, sondern auch ein Ort, wo Hungrige es nicht schaffen, genug zu verdienen."

In den vergangenen drei Jahren wurden in Silicon Valley mehr Menschen entlassen als eingestellt. Kaliforniens Arbeitslosenquote liegt mit knapp zwölf Prozent oberhalb der nationalen Quote. Die bedürftigen Menschen, die die Amerikanerin mit Essen versorgt sind daher nicht mehr die üblichen Obdach,- und Arbeitslosen, sondern inzwischen sind es viele Menschen aus der ehemaligen Mittelschicht.

Kathy Jackson: "Es liegt zum einen daran, dass die Lebenskosten zu hoch sind. Eine Familie mit 50.000 Dollar im Jahr kommt kaum über die Runden, wenn sie in Iowa leben würde, wären sie dort Könige."

Gleichzeitig kürzt der Staat die Sozialausgaben drastisch. Immer mehr Menschen sind daher von privaten Hilfsorganisationen wie die 2nd Harvest food bank abhängig.

Kathy Jackson: "Wir bekommen nur wenig Geld von der Regierung. Früher war es so, dass viele Hilfsorganisationen, mit staatlicher Unterstützung glaubten, ihre Hilfe sei sicher. Sie mussten es nicht jedes Jahr einsammeln. Wir sind froh, dass wir nur sieben Prozent unserer Gelder von der Regierung bekommen, denn heutzutage ist das nicht sicher. Auf allen Ebenen wird nämlich gekürzt, Kommunen, Bundesstaaten und Washington. Wir haben nun die Funktion des Sicherheitsnetzes übernommen, das früher einmal die Regierung war."
Kathy Jackson weiht heute ein neues Gebäude ein, das ihr die Firma Cypress Semiconductor gespendet hat. Das Halbleiterunternehmen beschäftigt 4000 Menschen und macht einen Umsatz von mehreren Milliarden Dollar. Gründer und Multimillionär TJ Rodgers sieht die Ursache für die wachsende Armut in der schlechten wirtschaftlichen Situation.

Der klein gewachsene Multimillionär mit dem strengen Blick steht in seinem sommerlichen Sakko auf dem Podest. Sein blonder Seitenscheitel und seine stechenden Augen betonen, dass es ihm ernst ist.

TJ Rodgers ist ein Vertreter des ultraliberalen Gedankens - wo wenig Staat wie möglich, so wenig Steuern wie nötig. Er ist stolz darauf harte Maßnahmen zu ergreifen, wenn er dadurch effizienter wirtschaften kann.

TJ Rodgers: "2001 habe ich unsere Letzte Fabrik geschlossen, ich weiß nicht ob sie wissen, aber es gibt kein Silicon mehr in Silicon Valley. Es gibt keine Fabriken mehr, warum, weil die Steuern so hoch sind. Und die Umweltauflagen sind so hoch, daß niemand mit gesundem Menschenverstand, mir inklusive hier eine Silikonfabrik bauen würde. Nicht die Unternehmen sind gescheitert, sondern die Regierung mit der Überregulierung und der Übersteuerung. Ohne die freie Marktwirtschaft wären wir richtig im Schlamassel."

TJ Rodgers steht mit seinen radikalpolitischen Ansichten in Silicon Valley eher allein da. Viele der Unternehmer hier sehen die Stimmung nämlich eher positiv. Die Krise ist definitiv vorbei sagt Russel Hancock vom Wirtschaftspolitischen Institut Joint Venture.

"Die Stimmung ist gut- Heute sind wir gerade aus einer sehr schwierigen Krise hervorgekommen. Und die Menschen freuen sich, daß es wieder bergauf geht, und man fühlt das hier, es brummt wieder. Es herrscht Aufregung und die Leute sind wieder beim Mittagessen und schreiben ihre Ideen auf Servietten."

Silicon Valley boomt wieder. Die innovative Region hat die Kurve gekriegt, sagt der Ökonom. Nach drei Jahren liegt die Arbeitslosenquote wieder unterhalb von zehn Prozent. Aber der Boom in vielen Branchen führt nicht wie früher auch zu mehr Jobs.

"Es stimmt. Silicon Valley ist nicht der Arbeitsplatzmotor, für den es viele Leute halten. Youtube zum Beispiel beschäftigt nicht viele Menschen, und ist dennoch eine so bedeutende Firma. Sie hat das Videogeschäft im Internet revolutioniert, aber insgesamt beschäftigt das Unternehmen nicht mehr als 300 Menschen."

Silicon Valley boomt. Vor allem bei Clean-Tech, Hancock bezeichnet die Region als das Epizentrum der grünen Technologie in den USA. Gerade findet eine Revolution in der Solar,- und Photovoltaikindustrie statt. Unternehmen wie Tesla und Betterplace erfinden das Auto der Zukunft und sind weltweit führend in der Batterietechnologie. Und dann natürlich: Facebook und Twitter – auf neudeutsch: social media. Bei Google und You-tube finden rasante Veränderungen statt. Facebook baut in Menlo Park ein neues Hauptquartier, ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht sagt Russel Hancock, Jobs werden kaum geschaffen. Wie geht das zusammen?

Russel Hancock: "Die Welt wird kleiner und sie verändert sich, keine Frage. SV hatte früher die größte Konzentration an Unternehmen, Erfindern und Erneuerern auf der Welt. Heute ist das anders. Heute gibt es viele Unternehmer auf allen Kontinent und Silicon Valley ist hier ein wichtiger Spieler, aber eben nur einer von vielen."

Im Klartext. In Silicon Valley entstehen die Ideen, in Billiglohnländern aber die Arbeitsplätze. Die Unternehmen der Zukunft arbeiten global und haben Büros in allen Wachstumsregionen.

Russel Hancock: "Das ist eine andere Welt, das sind nicht mehr die Siebzigerjahre."

Chris van Pelt war in den Siebzigerjahren noch nicht einmal geboren. Der 29-jährige Amerikaner hat das Start-up Unternehmen Crowdflower gegründet und macht genau das, was eine vernetzte Welt heute globalen Unternehmen erlaubt: Teure Arbeitskräfte durch billige ersetzen. Alles was man dazu braucht ist ein Computer. Und der kann in Indien stehen, in China – oder eben in San Francisco – hier im multikulturellen Stadtteil Mission fühlt sich Chris besonders wohl.

Crowdsourcing ist ein weitgefasster Begriff aber im Grunde muß man an Unternehmen denken, die Teile auslagern, outsourcen, also einfache automatisierte Aufgaben, die Menschen erledigen müssen. Sie gehen nach Indien und beschäftigen die Menschen dort. Crowdflower dagegen lagert an Menschen aus, die mit dem Internet vernetzt sind. Wir richten uns an Menschen aus der ganzen Welt, die zufällig etwas Freizeit haben, Aufgaben im Internet auszuführen, zum Beispiel für Foren, die den Nutzern Fragen stellen.

Seine Firma Crowdflower nutzt die weltweite Vernetzung, um billige Arbeitskräfte zu finden. Automatisierte und einfache Jobs können einfach weltweit an Leute verteilt werden: Alles was sie brauchen: einen Computer und Zeit. Chris optimiert die Prozesse, damit Unternehmen bestimmte Arbeitsprozesse einfach auslagern können. Outsourcing. Outsourcing ins Internet – an eine unbestimmte, anonyme Menge die nicht nach Arbeitsvertrag und geregelten Arbeitszeiten fragt. Die Menge – im englischen Crowd – arbeitet in Shanghai, Lagos oder Manila.

Die ersten acht Monate hat Chris noch von zu Hause gearbeitet, er hat die Cafés der Stadt zu seinem Büro gemacht. Das war vor drei Jahren. Heute beschäftigt er 50 Mitarbeiter. In wenigen Jahren sollen es 500 sein.

Crowdflower ist typisch für Start-Ups in Silicon Valley. Schlaue Studenten mit innovativen Ideen finden Risikokapitalgeber und gründen die Firmen von morgen.

Chris van Pelt: "Unser Ansatz revolutioniert das Beschäftigungsmodell. Denn die Leute die wir beschäftigen, haben wir weder angestellt noch ausgewählt. Wir haben ein System geschaffen, dass die Qualität von völlig anonymen Arbeitskräften garantiert."

Chris macht in der virtuellen Welt, was Automobilhersteller und Textilunternehmen in der realen Welt schon vor Jahrzehnten gemacht haben. Er zapft ein weltweites Reservoir an billigen und ungeschulten Arbeitskräften an. Die weltweite Vernetzung macht es möglich. Kein Wunder also entstehen in Silicon Valley nicht mehr so viele Arbeitskräfte wie früher. Selbst in den Wachstumsbranchen nicht mehr.

Chris van Pelt: "Diese Art der Beschäftigung ist ganz anders als in der Vergangenheit. Unsere jetzigen Arbeitsgesetze basieren auf der Idee, dass Menschen in einem Büro arbeiten. In einem Gebäude, in einer Stadt, in einem Land. Und es gibt unterschiedliche Gesetze je nach Stadt, Bundesstaat und Land."

Die neue globale Arbeitsteilung stellt aber die Staaten vor riesige Herausforderungen. Wo nämlich werden die Steuern eingetrieben? Die Lohnsteuer der Arbeitnehmer, die nun im Ausland sitzen, oder aber die Unternehmenssteuern oder noch umstrittener: die Mehrwertsteuern. Schon jetzt braucht schließlich kein Konsument in den USA Steuern zu bezahlen, wenn er Produkte im Internet kauft.

Chris van Pelt: "Es ist in jedem Fall eine Erfolgsgeschichte, aber wir wären nicht hier, wenn es nicht die Investitionen von Silicon Valley gäbe. Wir konnten so stark wachsen, weil wir das Geld hatten das wir brauchten. Um hier im Crowdsourcing Vorreiter zu sein."

Globale Konzerne spielen die Staaten gegeneinander aus. Die Apples und Googles der Welt suchen sich die Schlupflöcher, um so wenig Steuern wie möglich zu zahlen. Und die Staaten nehmen das in Kauf, denn sie versuchen die Unternehmen anzulocken, weil sie sich davon erhoffen, Arbeitsplätze zu schaffen.

Dabei unterbieten sie sich und konkurrieren um die günstigsten Steuersätze. In einer globalisierten Welt entsteht so ein regelrechter Steuerunterbietungskrieg. Die Unternehmen in Silicon Valley dagegen stehen zwischen den Fronten. Ist das System also am Ende? Für den Chef des Halbleiterunternehmens Cypress TJ Rodgers ist die Frage falsch gestellt.

TJ Rodgers: "Ich glaube nicht, dass das System in Silicon Valley gescheitert ist. Ich glaube nicht, dass die Technologie, die dich beschäftigt und das schafft was du in den Händen hältst als gescheitert bezeichnet werden kann. Wo würden wir sonst heute sein. Ich finde es schade, dass nicht genügend Wohlstand geschaffen wird, um alle Menschen in der Wirtschaft zu versorgen. Aber 1992 habe ich unsere Fabrik aus Silicon Valley in die Philippinen verlagert, weil wir sie uns nicht weiter leisten konnten, hauptsächlich wegen der Steuern."

In einer globalisierten Welt können Unternehmen wie Cypress der kalifornischen Regierung die Pistole auf die Brust setzen. Entweder ich zahle weniger Steuern, oder ich gehe in die Philippinen. In letzter Konsequenz bedeutet das also: noch weniger staatliche Einnahmen. Die wären aber dringend nötig, um in die Infrastruktur, das öffentliche Bildungssystem, oder die Krankenhäuser zu erneuern. Oder auch, um das Heer der neuen Arbeitslosen mit Nahrungsmitteln zu versorgen.

Kathy Jackson: "Das ist eines der ehrfürchtigsten Dinge hier an der Nahrungsbank, sagt Kathy von der Second Harvest Foodbank. Du denkst du weißt, wer hierher kommt. Ja, natürlich sind es Obdachlose, und alleinerziehende Mutter mit ihren Kindern. Es ist aber auch dein Nachbar, wenn du mal nachdenkst: jeder zehnte hier in der Region bekommt Nahrungsmittel. Jeder Zehnte von denen die du kennst."

50 Millionen Menschen in den USA leben nach Angaben des Hungerreports schon heute unterhalb der Armutsgrenze. Ein Teufelskreis. Obwohl Unternehmen Rekordgewinne einfahren, zahlen sie immer weniger Steuern. Gleichzeitig lagern sie ihre Arbeitsplätze in billigere Staaten aus. Der Staat geht Pleite und das Heer der Armen wächst.

TJ Rodgers ist der Vertreter der neuen Welt. Eine Welt in der die Privatwirtschaft das Sagen hat. Und Arbeitslose auf den guten Willen von privaten Spenden angewiesen sind. Ist das die neue Moral?

Silicon Valley boomt, aber die Abwärtsspirale ist in vollem Gang. Nur hochqualifizierte Arbeiter und innovative Unternehmer haben in Silicon Valley noch eine Chance. Ungeschulte Arbeitskräfte dagegen müssen um die Billigjobs in einer globalisierten Welt kämpfen. Selbst in Silicon Valley wird das Heer der Arbeitslosen daher also noch wachsen. Mit dem kleinen Unterschied zu früher: Die Staatskassen sind leer und können den Verlierern der Globalisierung nicht mehr unter die Arme greifen.
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