Armenier-Frage

"Die Türkei hat sich total verrannt"

Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem osmanischen Reich sitzt im Jahr 1915 in Syrien auf dem Boden.
Eine Gruppe armenischer Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich im Jahr 1915 in Syrien © picture-alliance / dpa / Library of congress
Vural Öger im Gespräch mit Nana Brink |
In der Armenien-Frage sollte die Türkei nicht zu sehr unter Druck gesetzt werden, meint der deutsch-türkische Unternehmer Vural Öger. Er plädiert für eine Realpolitik gegenüber Ankara, auch mit Blick auf die Aussöhnung mit Armenien.
Das ganze Land befinde sich in einer gewissen Paranoia, sagte der deutsch-türkische Unternehmer Vural Öger im Deutschlandradio Kultur. Alle sprächen von einer Tragödie oder einem Verbrechen, befürchteten aber bei dem Begriff "Genozid" Entschädigungsforderungen aus Armenien. Es sei richtig, dass die Bundesregierung vorsichtig agiert habe, um die Türkei nicht zu verärgern. Sie habe von "Verbrechen und Tragödie" gesprochen und den Begriff "Genozid" vermieden.
Eiertanz um einen Terminus
"Die Türkei hat sich bei diesem Thema total verrannt", sagte der deutsch-türkische Unternehmer Vural Öger, der als SPD-Politiker fünf Jahre lang EU-Abgeordneter war. "Das ist ein Eiertanz um diesem Terminus." Er plädierte für eine Realpolitik gegenüber Ankara und kritisierte, dass "Türkei-Bashing" im Westen sehr in Mode sei. Dabei dürfe man eine Regierung nicht mit dem ganzen Land gleichsetzen.
Schweigen in türkischen Schulen
Bundespräsident Joachim Gauck habe die "Wahrheit" gesprochen, sagte Öger. Zu seiner Schulzeit in der Türkei sei diese Tragödie verschwiegen worden. "Dadurch, dass sie im Geschichtsunterricht nicht richtig unterrichtet wurden, dann haben die einen gewissen Stolz entwickelt und dann werden bestimmte Reflexe ausgelöst, sobald sie Armenien hören." Das sei natürlich nicht gesund.
Sorge um Versöhnung mit Armenien
Öger sagte, dass er sich sorge, dass der Versöhnungsprozess zwischen Armenien und der Türkei nie stattfinden könne, weil die Fronten jetzt sehr verhärtet seien. "Vielleicht hätte man sagen können, irgendwie Verbrechen und Tragödie, wie die Türken das gerne hören", sagte er. Das könne einen Prozess einleiten, an dessen Ende eine Aussöhnung der beiden Länder stehen könne. Viele Armenier wünschten sich gute Beziehungen zur Türkei.

Das Interview im Wortlaut:
Gunnar Köhne berichtete über die Reaktionen und das, was in der Türkei passiert. Und über die deutschen Reaktionen spreche ich jetzt mit Vural Öger, er ist deutsch-türkischer Unternehmer, war auch fünf Jahre im Europaparlament für die SPD. Einen schönen guten Morgen, Herr Öger!
Vural Öger: Guten Morgen!
Brink: Was sagen Sie zu der Rede von Gauck gestern Abend im Berliner Dom? Wie ist die bei Ihnen angekommen?
Öger: Tja, der Gauck hat doch die Wahrheit gesprochen. Wissen Sie, was die Armenien-Frage angeht, habe ich das Gefühl, dass sich das ganze Land in einer gewissen Paranoia befindet. Alle sagen, es gab eine Tragödie, es war ein Verbrechen und Vertreibung der Armenier. Aber das Land stört sich, glaube ich, besonders an dem Terminus „Genozid". Also „Genozid" als Terminus ist sehr problematisch.
Und es gibt noch eines: Ich habe selbst mein Abitur in der Türkei gemacht. In Geschichte wurde einfach dieses Vergehen, eine Tragödie, wurde einfach verschwiegen. Also das heißt, die Türken, die auf die Schule gehen, die wissen gar nichts, es sei denn, durch solche Ereignisse kommt es zum Thema. Aber dadurch, dass sie im Geschichtsunterricht nicht richtig unterrichtet wurden, dann haben die einen bestimmten Stolz, entwickeln sie, und dann sind gewisse Reflexe werden ausgelöst, sobald sie "Armenien" hören. Das ist natürlich nicht gesund.
Und die Türkei hätte sich anders benehmen können, hätte auch sagen können, es war damals das osmanische Reich, und wir sind eine junge Republik, wir sind für den Frieden, für Versöhnung, und es tut uns leid, was da passiert ist. Aber wissen Sie, es gibt noch eines. Ich hab mich natürlich mit vielen Menschen dort unterhalten, auch in höchsten Regierungsgremien. Was die Türken befürchten, ist einfach so, dass die Armenier, wenn es als „Genozid" anerkannt wird in der Türkei und wenn die Türkei das auch zugibt, gewisse Rückgaben verlangen könnten, Reparationszahlungen verlangen könnten und Ähnliches, und davor haben sie große Bedenken. Und natürlich, dass die moralische Sicht und derartige finanzielle Sicht, die stoßen aufeinander –
Ursprungsland der Armenier am Van-See
Brink: Aber das alles sind ja Sachen, die zum Beispiel Deutschland in dem Sinne, mit dem Deutschland nichts zu tun hat. Aber es geht ja auch um diese moralische, wie Sie selber eben gesagt haben, Verpflichtung, das als solches zu benennen, was es ist. Und die Türkei hat ja nun massiven Einfluss, nicht nur diplomatisch im Hintergrund, sondern sehr öffentlich auf Deutschland ausgeübt. Wie ist das bei Ihnen angekommen?
Öger: Ja. Das, was da gesagt wurde, halte ich nicht für angebracht. Wissen Sie, dieser Eiertanz um diesen Terminus, das ist eben, wie ich vorhin gesagt habe, ist das Problem. Die Türken wissen mittlerweile, was dort gelaufen ist. Denn letzten Endes gibt es Realitäten, gibt es Tatsachen. Es lebten dort – die Angaben sind verschieden – eine Million bis anderthalb Millionen Menschen überwiegend im Osten der Türkei, das Ursprungsland Armeniens, schon im vierten Jahrhundert haben sie einen Staat dort gegründet, einen christlichen Staat, bevor überhaupt die Türken in Anatolien einwanderten. Also unbestritten ist, dass dort einfach, um diesen Van-See herum, überwiegend Armenier lebten. Zum Beispiel eine Stadt wie Van, also am Fuß des Ararat, hatte eigentlich bis 1915 eine Bevölkerungszahl, 60 Prozent Armenier lebten dort. Und wenn man schon sagt, also manche könnten sagen, 800.000 waren das, manche eine Million. Wie gesagt, im Westen wird es eher sagen, dass es 1,2 bis 1,5 Millionen – die Frage stellt sich hier. Das ist auch die Frage, die ich immer wieder dort stelle. Ja, sag mal, was ist denn den Leuten da passiert.
Es lebten dort eine Million Menschen, und heute lebt dort kein einziger Mensch mehr. Deportiert? Wohin deportiert? In Syrien sind angekommen nach Zählungen ungefähr 60.000 bis 80.000, im Irak auch so 60.000. Ja, wo sind die restlichen? Es sind 200.000 vielleicht nach Frankreich gegangen, ist möglich. Ja, wo ist der Rest? Also wenn solche Fragen gestellt werden, fangen sie an, irgendwie auszuweichen. Das ist ein Kernproblem, die Türkei hat sich in dem Thema total verrannt. Da wir nicht eine eindeutige Stellungnahme in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, mittlerweile die gesamte Weltöffentlichkeit erfährt, was dort für ein Verbrechen geschehen ist. Welcher Deutsche, welcher Österreicher wusste, was vor hundert Jahren dort irgendwie in der fernen Türkei passierte? Aber dadurch wird es jetzt publik, überall.
Die Bundesregierung war vorsichtig
Brink: Herr Öger, Sie haben gesagt, dass die deutsche Regierung ja einen Eiertanz aufgeführt hat, also wie sie sich verhalten sollte, sie hat ja lange versucht –
Öger: Nein, die Türkei führt einen Eiertanz – die deutsche Regierung war sehr vorsichtig. Ich meine, die bemühen sich, überhaupt die Türkei nicht zu verärgern, die sagen "Verbrechen" und "Tragödie" und vermeiden das Wort „Genozid".
Brink: Ist das richtig so?
Öger: Das ist auch richtig, ich sag Ihnen, warum. Dieses Drängen auch von Österreich und der anderen – man muss auch sagen, seit Erdogans Eskapaden in den letzten Jahren – „Türkei-Bashing" ist sehr in Mode, auch im Westen, das merke ich auch. Man darf natürlich nicht eine Regierung, eine Partei mit dem ganzen Land gleichstellen, das halte ich für einen Fehler. Aber wenn ein Partnerland das Wort „Genozid" so ernst nimmt, so verrannt ist, dass dieser Versöhnungsprozess zwischen Armeniern und Türken nie stattfinden wird, weil die Fronten sehr verhärtet werden. Vielleicht hätte man sagen können, irgendwie "Verbrechen" und "Tragödie", wie die Türken das gerne hören, das wäre ein Anfang. Ich kann mir vorstellen, dass es ein Prozess ist, an dessen Ende es doch zu einer richtigen Versöhnung mit den Armeniern und der Türkei kommen könnte.
Ich habe mich auch mit vielen Armeniern unterhalten. Ein Großteil wünscht sich gute Beziehungen zur Türkei. Weil in Russland ist der einzige Partner sozusagen, den sie haben. Die haben keinen Zugang zum Meer. Wenn die über Anatolien fliegen, kriegen sie keine Fluggenehmigung, also wirtschaftlicher Schaden ohne Ende. Es ist schon in deren Interesse, mit der Türkei eine bessere Beziehung anzufangen. Und unterscheidet zwischen Diaspora-Armeniern und den Armeniern, die in Armenien leben. Für die Diaspora-Armenier ist es eine Raison d'être. Die Diaspora-Armenier, das ist für die irgendwie die Idee, manchmal habe ich das Gefühl, diese Diaspora wird durch diese Idee oder durch diesen Glauben aufrechterhalten.
Brink: Entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber ganz kurz am Ende des Gesprächs noch mal die Frage: Sie sind Unternehmer. Muss man dann, wenn ich Sie so sprechen höre, dann auch mal deutliche Worte sprechen auf die Gefahr hin, dass es auch dem Business schadet, nämlich dem deutsch-türkischen?
Lohnt sich das eigentlich?
Öger: Selbstverständlich. Das ist eine – das kann ganz schnell eskalieren. Also im französischen Parlament das Wort "Genozid" ausgesprochen wurde, dann hat man abgelehnt, französischen Käse zu kaufen, da wurden ganze Staatsaufträge storniert an Frankreich. Die Franzosen haben überhaupt keinen Auftrag mehr bekommen. Also der geschäftliche Schaden war für beide Seiten enorm. Daher fragt sich, lohnt sich das eigentlich? Lohnt sich – gut, Herr Gauck ist ein – er ist ja nicht, er muss ja nicht ein Politiker sein, aber ein politisches Vorgehen... Es ist richtig, was er sagt, aber er hätte auch sagen können vielleicht, es ist ein großes Verbrechen geschehen, wie auch immer. Weil letzten Endes, wissen Sie, es gibt eine Realpolitik. Es geht nicht alles nach moralischen Vorstellungen und so. Ein freier Mensch kann frei reden. Selbst ein Bundespräsident kann seine Meinung sagen, aber Regierungen, die reden etwas anders, und daher denke ich mir, da sollte man vielleicht die goldene Mitte treffen. Weil wenn ein ganzes Land in diesem Punkt wirklich dermaßen in Paranoia ist ...
Brink: Vielen Dank! Vielen Dank so weit Vural Öger, deutsch-türkischer Unternehmer. Danke für Ihre Einschätzungen dieses Falls.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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