Arm - aber kämpferisch

Von Jochen Faget |
Portugals Regierung muss als Gegenleistung für die Hilfen aus dem Euro-Rettungsschirm eine strenge Sparpolitik fahren. Besonders hart trifft das die Senioren. Doch viele Rentner wollen die ständige Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen nicht mehr hinnehmen - und zeigen auf Demonstrationen Flagge.
Sie verrücken die Tische und Stühle im Konferenzraum, hängen Plakate auf. Rosário Gama und ihre Kollegen sind in die mittelportugiesische Distrikthauptstadt Leiria gekommen, um für ihren Rentner- und Pensionärsverband APRE! zu werben. In zehn Minuten soll es losgehen, darum ziehen sie sich T-Shirts über, auf denen steht "Wir lassen uns nicht wegwerfen": So freundlich die Senioren auch lächeln - sie sind auf Krawall gebürstet. Zu Recht, meint Präsidentin Rosario Gama:
"Das ist ein Massaker! Es gibt kein Land in Europa, das seine Rentner schlechter behandelt als Portugal. Selbst in anderen Krisenländern wie Spanien und Griechenland hat man das nicht gewagt. Aber hier werden ihre Renten immer und immer wieder gekürzt. Das können wir nicht zulassen, wir werden gegen diese Kürzungen kämpfen."

Wie alle Portugiesen, die noch im Berufsleben stehen, müssen auch Portugals Rentner dreieinhalb Prozent mehr Einkommenssteuer zahlen – eine Sonderabgabe, die mithelfen soll, das Land aus der Finanzkrise zu bringen. Darüber hinaus hat die Regierung ihnen noch eine Sondersteuer auferlegt. Dieser sogenannte Solidaritätszuschlag macht Rosario Gama richtig böse:

"Wer mehr als 1350 Euro Bruttorente bekommt, muss noch einmal mindestens dreieinhalb Prozent Sonder-Solidaritätszuschlag bezahlen. Die Regierung stellt uns hin, als ob wir steinreich wären. Bei höheren Renten kann der Abzug sogar 40 bis 50 Prozent ausmachen."

Dabei sind die Rentner im westlichsten Land Europas alles andere als reich:

"80 Prozent der Rentner bekommen weniger als 600 Euro netto im Monat, viele sogar nur um die 300 Euro. Das beweist doch die Armut der Senioren in diesem Land! Wenn von gut zweieinhalb Millionen Rentnern 80 Prozent weniger als 600 Euro bekommen, ist das brutal."

Alles deutet darauf hin, dass die Lage sich in diesem Jahr eher noch verschlechtert. Denn um mehr Hilfsgelder zu bekommen, muss Portugal im Sozialbereich weniger ausgeben. Finanzminister Vítor Gaspar ist der einzige der Regierung, der das - allerdings höchst unklar - ausspricht:

"Wir müssen die fundamentalen sozialen Aufgaben mit einem ausreichenden und politisch tolerierbaren Steuer- und Abgabenniveau in Einklang bringen. Zunächst geht es um Einsparungen in Höhe von mindestens vier Milliarden Euro während der nächsten zwei Jahre."

"Eine dramatische Zerstörung des Sozialstaates"
Im Klartext: Portugal kann sich sein sowieso schon höchst grobmaschiges soziales Netz nicht mehr leisten. Da rutschen Senioren schnell unter die Armutsgrenze. Der Soziologe Manuel Carvalho da Silva warnt:

"Eine dramatische Zerstörung des Sozialstaates findet statt. Es geht nur mehr darum, die Menschen nicht völlig der Armut und dem Hunger zu überlassen. Das Land verwandelt sich in ein Land der Armenküchen. Es gibt schon mindestens 500 davon. Dort essen immer mehr Menschen, weil sie sich nur so eine warme Mahlzeit leisten können. Es ist eine Schande."
Armenküchen gibt es in Portugal mittlerweile in jeder Stadt mindestens eine.

Die Hilfsorganisation ‚Associação Casa’ versorgt Bedürftige in der ehemaligen Industriestadt Setúbal südlich von Lissabon. Arbeitslose, Menschen, deren Einkommen nicht mehr reicht, die Familie zu ernähren. Vor allem Rentner werden hier mit Lebensmitteln versorgt. Der 69-jährige Primitivo Augusto kommt seit acht Monaten:

"Ich habe große Geldprobleme. Meine Rente sind 275 Euro, aber schon die Wohnung kostet 350. Also muss ich hier essen."

Mit Hilfe seiner Kinder könne er gerade so überleben, erzählt der Mann mit Tränen in den Augen. Aber sie hätten selbst kaum genug. Staatliche Hilfen wie Miet- oder Kleidungszuschüsse seien nicht zu bekommen. Eine dringende Operation verschiebe er immer wieder, weil er Angst habe, auch noch die Wohnung zu verlieren:

"Ich bin schwer krank, habe ein Problem mit der Prostata. Mein Hausarzt sagt immer, ich muss mich operieren lassen. Aber ich tue es nicht, weil ich nicht weiß, wie ich das alles bezahlen soll. Ich habe nicht genug Geld für all die Medikamente und für die Miete."

Im mittelportugiesischen Leiria hat derweil das Treffen des Rentnerverbandes APRE! begonnen. Der Saal ist voll. Mehr als 50 Senioren sind gekommen. Das sei viel für eine erste Zusammenkunft in dieser Stadt, freut sich die Vorsitzende Rosário Gama. Das Interesse sei groß, immerhin habe es der Verband in den drei Monaten seines Bestehens schon auf fast 3000 Mitglieder gebracht.

"Wir sind eben nicht der Abfall der Gesellschaft. Wir haben ein Recht auf ein würdiges Leben im Alter. Dafür haben wir schließlich unser Leben lang Sozialabgaben bezahlt."

Hilfsprojekte liefern Essen auf Rädern
Leider sieht die Praxis anders aus. Viele Senioren in Portugal sind auf die Hilfe von Wohlfahrtsorganisationen angewiesen. Besonders aktiv sind seit jeher die ‚Santas Casas de Misericôrdia’, moderne Institutionen, die aus den mittelalterlichen ‚Barmherzigen Bruderschaften’ zur Armenhilfe hervorgegangen sind.

‚Guten Tag, Herr Júlio, wie geht es denn heute’, begrüßt Ana Carreira den bettlägerigen Rentner Júlio Matos. Die Leiterin der Seniorenbetreuung der Santa Casa da Misericôrdia im Lissabonner Vorort Cascais will wissen, ob alles in Ordnung ist. Sie besucht ‚ihre’ Senioren mindestens einmal im Monat persönlich:

"Schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass es hier um Menschen geht. Wir müssen die Würde der Senioren achten, selbst wenn wir ihnen nur Essen auf Rädern bringen."

Mehr als 200 Rentner betreut die Hilfsorganisation inzwischen - und wegen der Krise werden es immer mehr. Essen auf Rädern gibt es - je nach Einkommen - kostenlos oder für höchstens drei Euro. Alle anderen Leistungen haben ebenfalls symbolische Preise. Finanziert wird das durch minimale staatliche Zuschüsse, sowie Spenden und Einnahmen aus anderen Wirtschaftsaktivitäten. Die Santa Casa de Misericôrdia von Cascais betreibt sogar einen Schnellimbiss mit Take Away.

Júlio Matos ist 75 und kann sein Bett seit Jahren nicht verlassen. Weil seine Frau Sofia ebenfalls Gesundheitsprobleme hat, bekommt das Ehepaar nicht nur das Essen von der Wohlfahrtsorganisation nach Hause gebracht, sondern auch Hilfe bei der Hausarbeit und der Krankenpflege. Das ‚Rundumpaket’, scherzt Sozialarbeiterin Carreira, für weniger als 200 Euro im Monat. Denn bei 800 Euro Rente für beide reicht das Geld sowieso kaum aus, rechnet Júlio Matos vor:

"Wir geben fast alles für Medikamente aus. Mehr als 200 Euro zahlen wir immer in der Apotheke. Die Miete kostet 400 Euro. Oft haben wir nicht mehr als 20 Euro im Monat für den Rest."

Vor allem die Gesundheitsausgaben für Senioren seien brutal gestiegen, stellt die Sozialarbeiterin Ana Carreira fest. Im Rahmen der Sparmaßnahmen hat die Regierung die Arztgebühren im staatlichen Gesundheitsdienst erhöht und gleichzeitig die Zuzahlungen zu Medikamenten und Behandlungen gekürzt. Für Zahnersatz und Hörgeräte zum Beispiel zahlt der Staat gar nichts. Sogar für den Krankentransport zur Behandlung im Krankenhaus müssen die Patienten selbst aufkommen. Gesundheit werde für immer mehr Senioren zum Luxus, meint auch Júlio Matos’ Ehefrau Sofia. Sie spart schon bei ihren Blutdrucktabletten:

"Von den Pillen nehme ich jetzt eine statt zwei. Der Arzt hat gesagt, das sei ok und ich muss sparen. Anders kommen wir nicht über die Runden."

Die Regierung will die Staatsausgaben weiter kürzen
Sofia Matos sitzt neben dem Bett ihres Mannes. Das Leben im Alter habe sie sich anders vorgestellt, stellt die Seniorin trocken fest. Angst macht ihr allerdings, was sie täglich im Fernsehen hört: Dass weitere Einsparungen auf Portugal zukommen. Insbesondere im Sozialbereich, fürchten viele. Auch Sofia Matos:

"Ich weiß nicht, was werden wird. Ich denke oft darüber nach, liege schlaflos im Bett. Wenn wirklich so viel gekürzt wird, wie sollen wir dann überleben? Mein Mann kann nicht weniger Medikamente nehmen, wie ich. Der würde sterben."

‚Der Staat kann uns nicht behandeln, wie den letzten Dreck, wir lassen uns das nicht länger gefallen’, verkündet Rosário Gama beim Rentnerverbandstreffen und spricht damit ihren Zuhörern im mittelportugiesischen Leiria aus der Seele. Die verärgerten Senioren reden nicht nur, sie handeln auch: Den unfreiwilligen Rentner-Solidaritätszuschlag und die Sondersteuer haben sie vors Verfassungsgericht gebracht. Das muss jetzt entscheiden, ob diese Maßnahmen der Regierung rechtens waren. Die Chancen, dass die Vorschrift von Portugals obersten Richtern gekippt wird, stehen nicht schlecht, räumt sogar der der Regierung nahe stehende Ex-Finanzminister Bagão Felix ein:

"Es kann schließlich nicht sein, dass Rentner für das gleiche Einkommen mehr Steuern zahlen müssen als Berufstätige oder Finanzspekulanten."

Trotzdem rechnet Rosário Gama nicht damit, dass es Portugals Rentnern in nächster Zeit besser gehen wird. Im Gegenteil:

"Wenn die Regierung wirklich die bereits angekündigten weiteren vier Milliarden Staatsausgaben kürzen will, wird natürlich alles noch schlimmer. Das wäre ein Teufelskreis."

Ein Teufelskreis, der das gesamte Sozialsystem Portugals in Frage stellen könnte. Das hat Portugals Finanzminister Vítor Gaspar in seiner üblichen, verklausulierten Art schon angedeutet:

"Wenn Unzufriedenheit über Steuererhöhungen herrscht, gibt es nur eine Lösung – Staatsausgaben verringern. Das würde dazu zwingen, die Aufgaben des Staates zu überdenken und seine Funktionsweise grundlegend zu ändern."

Diese Pläne, die eigentlich einer Verfassungsänderung bedürfen, hat die Opposition zwar umgehend geschlossen abgelehnt. Doch Portugals Regierung scheint bei der Troika in der Pflicht zu stehen. Das würde bedeuten, dass ohne weitere Kürzungen neue, dringend benötigte Rettungsschirmzahlungen gefährdet wären. Und wird gekürzt, trifft es wieder die Senioren, glaubt die Sozialarbeiterin Ana Carreira sicher:

"Wohlfahrtsorganisationen wie die ‚Santa Casa’ entwickeln sich langsam zum letzten rettenden Strohhalm. Ich weiß nicht, ob wir diese Erwartung erfüllen können. Erstens gibt es immer mehr ältere Menschen, die immer mehr Betreuung brauchen. Zweitens werden die Kosten für Medikamente immer höher. Aber unsere Mittel sind begrenzt, wir können nicht alles übernehmen. Das geht einfach nicht."

Wie es gehen soll, scheint jedoch auf staatlicher Seite niemand zu wissen. Alle Optionen stünden offen und würden überprüft, heißt es vage aus dem Sozialministerium. Auch eine neue Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre. Nur gibt es dann ein anderes Problem: Wegen der Krise und der Sparmaßnahmen ist die Arbeitslosigkeit in Portugal auf fast 16 Prozent gestiegen, alles deutet auf eine weitere Zunahme hin. Aber Arbeitslose zahlen nicht nur keine Renten- oder Sozialversicherungsbeiträge, sie kosten sogar Arbeitslosenhilfe. Geld, das dann wieder bei den Renten fehlt.
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