Aribert Reimann über die "Fragments de Rilke"

"Es geht um unsere Erde"

07:03 Minuten
Der Komponist, Pianist und Musikwissenschaftler Aribert Reimann
Der Komponist, Pianist und Musikwissenschaftler Aribert Reimann © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Moderation: Mascha Drost · 22.02.2019
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„Fragments de Rilke“ heißt das Werk von Aribert Reimann, das jetzt vom Deutschen Symphonieorchester unter der Leitung von Robin Ticciati uraufgeführt wird. Eine alles überwindende Liebe, das sei der Sinn in diesem Stück, erklärt Reimann.
Mascha Drost: "Fragment de Rilke", so heißt ein neues Orchesterwerk von Aribert Reimann. Am Samstag wird es vom DSO, vom Deutschen Symphonieorchester Berlin unter Robin Ticciati uraufgeführt. Die "Fragmente", das sind späte Gedichte, die Rilke in den letzten Jahren vor seinem Tod schrieb, auf Deutsch und Französisch. Wenige Zeilen manchmal nur, Rilke vergeistigte Lyrik in Essenz.
"Ganz entflammt von Zukunft betrachte ich den Himmel", mit diesen Zeilen lässt Reimann sein neues Werk beginnen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich Aribert Reimann diesen Fragmenten widmet. Was ihn daran so fasziniert, darüber habe ich gestern mit dem Komponisten sprechen können. Er kam ins Studio, nach der Orchesterprobe, in der er sein Werk das erste Mal gehört hatte.
Diesen Moment, wenn ein Werk das erste Mal erklingt, nicht nur in seinem inneren Ohr, sondern gespielt wird vom Orchester, diesen Moment hat Aribert Reimann unzählige Male schon erlebt. Ist er dennoch etwas Besonderes für ihn?

So aufgeregt wie damals

Aribert Reimann: Ja. Vor 59 Jahren hat das DSO zum ersten Mal ein Stück von mir gespielt. Das waren die "Lieder auf der Flucht" nach Texten von Ingeborg Bachmann, das war 1960. Und jetzt sind 59 Jahre vergangen, und als ich heute in die Probe kam, war ich genau so aufgeregt wie damals. Das ist immer so, bei jedem neuen Stück.
Drost: Sie haben ja 2011, vor acht Jahren, schon einmal Rilke-Fragmente vertont für Sopran und Klavier. Was bedeutet Ihnen denn diese späte, diese sehr vergeistigte, auch ätherische Dichtung von Rilke?
Reimann: Ich muss jetzt dazusagen, ich habe diese Rilke-Fragmente, die deutschen vertont damals, und habe zwei französische hineingenommen. Er hat ja über 400 Gedichte in Französisch geschrieben. Und gerade in den letzten Jahren hat er eigentlich mehr Französisch als Deutsch geschrieben. Und der französische Rilke ist ein vollkommen anderer als der deutsche. Ich bin dem eigentlich noch mehr zugeneigt jetzt, dem französischen, weil in der französischen Sprache ist er auch gedanklich nicht so belastet wie im Deutschen. Und er ist sehr knapp in der Form, ist sehr klar auch in der Wortstruktur, auch in den Sätzen. Und das Merkwürdige ist, er hat entweder französisch oder deutsch – es gibt, glaube ich, nur zwei oder drei, die hat er in beiden Sprachen.
Alles, was er im Französischen sagt, das hätte er niemals im Deutschen formulieren können, und umgekehrt. Er war eigentlich ein gespaltener Mensch mit zwei Sprachen.
Drost: Und wie haben Sie diese Zwitterhaftigkeit, diese sprachliche Zwitterhaftigkeit kompositorisch aufgenommen?

"Es geht mehr oder weniger um unseren Planeten"

Reimann: Eigentlich sind die sehr viel knapper, die französischen, als die deutschen. Das liegt aber auch ein bisschen mehr an dem Text, aber bei dem Deutschen, da ufere ich noch mehr aus, die sind nun auch mit Klavier. Und hier sind sie eigentlich sehr knapp, und ich habe das Ganze als ein Orchesterstück konzipiert.
Ein durchgehendes Stück, in das dann die Stimme hineingesetzt wird. Es gibt ein Vorspiel, und immer nach zwei Fragmenten gibt es ein Zwischenspiel. Und in dem zehnten Fragment müsste eigentlich dann das vierte Zwischenspiel kommen. Das kommt auch, aber nun mit der Stimme zusammen. Denn die Stimme erklärt, was die anderen Zwischenspiele und auch das Prelude zu bedeuten haben. Es geht mehr oder weniger um unseren Planeten. Es geht um unsere Erde. Und alles, was sich ereignet in diesen Gedichten, hat mit uns, mit unserer Erde zu tun und eben auch mit der Gefahr unserer Erde.
Und es gibt da ein Gedicht, dieses zehnte, das ist eben das Schlüsselgedicht, wo der Gedanke ist, die Erde wird gereinigt, und alles, was an Schicksalen, an Schrecklichem auf der Erde geschehen ist, geht weg und wird gereinigt, und die Erde bekommt eine neue Haut. Und bei dem letzten Gedicht heißt es eben, "de la terre profond amour", also "von der Erde erhebt sich tiefe Liebe". Darum ging es mir eben. Das ist die Utopie, die wir alle haben, dass es auf dieser Erde keinen Krieg mehr gibt, sondern die Menschen nur noch in Liebe zusammen existieren.
Drost: Das ist das Ziel, die alles überwindende Liebe.
Reimann: Ja. Und das ist eigentlich auch der Sinn in diesem Stück. Es fängt aber gleich an mit diesem etwas Rauen, und dann, wenn sie dann nachher bei dem zehnten einsetzt und das erklärt, weiß man, die Erde bekommt eine neue Kontur, eine neue Oberfläche.
Drost: Die Stimme, der Gesang spielt ja eine große Rolle in Ihrem Oeuvre, vor allem die weibliche Stimme. Nicht nur in den Opern, es gibt auch zahlreiche andere Vokalwerke. Was kann denn die Stimme ausdrücken, abgesehen vom Text, was ein Instrument nicht kann?

"Eine Stimme kann über ein Instrument hinausgehen"

Reimann: Für mich ist dieser Unterschied eigentlich gar nicht so groß. Ich meine, eine Stimme kann natürlich – es gibt dann eben doch Dinge, die über ein Instrument hinausgehen, auch das menschliche Empfinden natürlich, die Klangfärbung ... Aber der Unterschied ist dann, dass natürlich auch die Sprache dazukommt, dann eben auch die Möglichkeit der Expression ist auch größer bei einer Stimme.
Drost: Und vielleicht auch gerade die weibliche Stimme? Weil Sie haben sehr viel für weibliche Stimmen geschrieben. Auch Ihre großen Opernrollen sind sehr unterschiedliche, aber sehr kraftvolle, expressive Opernrollen.
Reimann: Ja. Man hat natürlich gerade für einen Sopran sehr viel mehr Möglichkeiten. Eine Frauenstimme ist sehr viel flexibler, vor allem eine Stimme, die auch sehr viele Koloraturen hat. Und man kann unendlich viel dann eben mit einer Frauenstimme machen, was man mit einer Männerstimme nie machen kann.
Von der Leichtigkeit der Koloratur bis zum Dramatischen, das habe ich ja nun in manchen Rollen dann doch bis zum Exzess getrieben, vor allem bei "Medea", und der "Lear" geht auch an die Grenzen. Aber die Flexibilität einer Frauenstimme, wenn sie auch eine dramatische Koloratur dann noch dazu hat, ist natürlich viel, viel größer. Und das hat mich immer wahnsinnig interessiert, dafür zu schreiben.
Aber ich denke dann auch, wenn man an Verdi denkt, was er mit einer Stimme alles machen konnte – das sind ja alles sehr unterschiedliche Rollen, und trotzdem hat er seine größten und fantasievollsten Partien eben für die Frauen geschrieben. Eine Frau hat einfach unendlich viele Möglichkeiten.
Drost: Wäre dieser Satz doch allgemeingültig ... Das war der Komponist Aribert Reimann. Morgen werden die "Fragments de Rilke", die "Fragmente nach Rilke" uraufgeführt mit dem DSO, der Sopranistin Sarah Aristidou und Robin Ticciati.
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