Aharon Appelfeld: "Sommernächte"

"Angst ist verboten, Angst macht uns klein"

06:53 Minuten
Das Buchcover zeigt ein Kornfeld mit Mohnblumen, darauf den Autorennamen und Buchtitel.
© Rowohlt Verlag

Aharon Appelfeld

Aus dem Hebräischen von Gundula Schiffer

SommernächteRowohlt Verlag, Hamburg 2022

222 Seiten

22,00 Euro

Von Marko Martin · 15.02.2022
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In „Sommernächte“ erzählt der israelische Schriftsteller Aharon Appelfeld vom Überleben eines jüdischen Jungen in den ukrainischen Wäldern während des Zweiten Weltkriegs. Hier zeigt sich noch einmal die literarische Kraft dieses Ausnahmeautoren.
Von Aharon Appelfeld, der in diesem Monat neunzig Jahre alt geworden wäre, hieß es in den letzten fünf Jahrzehnten oft, er schreibe im Grunde genommen stets das gleiche Buch. Eine Beobachtung, keine Kritik, und von ähnlicher Zuneigung getragen wie etwa das gleichlautende Urteil über die Romane Patrick Modianos.
Appelfeld, 1932 in der Bukowina geboren und 2018 in Petach Tikwa bei Tel Aviv gestorben, hatte in der Tat ein großes Lebensthema: Geschichten erzählen vom Überleben. Fast immer geschrieben aus einer Kinderperspektive, die autobiografisch grundiert war: 1940, da ist er acht Jahre alt, wird seine Mutter von rumänischen Faschisten ermordet, er selbst kommt zusammen mit dem Vater in ein Arbeitslager nach Transnistrien.

Allein in ukrainischen Wäldern

Später gelingt die Flucht, doch wird der Junge – der damals noch nicht Aharon, sondern Erwin heißt – von seinem Vater getrennt und muss sich nun allein durchschlagen in den ukrainischen Wäldern, wo er Bekanntschaft macht mit guten und bösen Menschen und all den grau Schattierten oder auch bunt Gewürfelten dazwischen.
Ein blonder, blauäugiger Junge, dem unter Aufbietung aller Kräfte die Mimikry gelingt, der Umwelt das aus säkularer jüdischer Familie stammende Kind zu verbergen, und sich Jahrzehnte später, nun längst ein hoch anerkannter israelischer Schriftsteller, auf Hebräisch in jenes Kind zurückverwandelt.
Oder besser: In so viele Kinder, die er hätte ebenfalls sein können, Jungen und Mädchen auf der Flucht, die es doch ganz gewiss gab und die der Anonymität zu entreißen waren und zu bergen in zahlreichen Romanen mit einer ebenso betörenden wie illusionslosen Autorenstimme: Denn leise und andeutend, trotz aller Schrecken mitunter fast märchenhaft ist dieses Erzählen, sinnlich und parabel-ähnlich zugleich.

Bewusstsein für das Überlebensnotwendige

In „Sommernächte“, dem soeben in konziser deutscher Übersetzung erschienenen späten Roman von Aharon Appelfeld, gibt es nun noch einmal jene Grundkonstellation. Eine Straße, ein Feld, ein Waldstück. Bauernkaten, Wirtshäuser, kleine Läden und  darin Menschen, von denen nicht sicher ist, ob sie einem nach dem Leben trachten oder sich als Retter erweisen.
„Janek wusste schon damals, diese Diagnose war die Essenz seiner grundsätzlichen Auffassung: Drück dich einfach, klar und verständlich aus; jeder, der in einen Redeschwall ausufert, macht sich verdächtig, etwas vorzugaukeln.“
Dabei heißt Janek in Wirklichkeit Michael und hat entsetzliche Angst. Seine Eltern haben den elfjährigen Jungen, um zumindest ihn zu retten, an der Seite des integren ehemaligen K. u. k.-Soldaten Sergei weggeschickt, mitten hinein in eine ukrainische Landschaft, die ihm als kultiviertem Kleinstadtkind zunächst furchtbar fremd ist.
Aharon Appelfeld erzählt, wie jener zu Janek gewordene Michael das alles betrachtet: aufmerksam, verwundert, detailgenau und gleichzeitig mit dem Bewusstsein für das Entscheidende, Überlebensnotwendige: ein Taschenmesser, ein vor Regen schützendes Militärtuch, nicht zuletzt ein Holzkreuz um den Hals, um das Misstrauen der Bauern zu zerstreuen.
An seiner Seite: der alte und wortkarge Sergei, seit Langem blind und zu einem freiwilligen Landstreicher geworden. Tagsüber wird gewandert und vor Kirchtüren auf Almosen gehofft, und gerade weil auch die nächtliche Rast unter freiem Himmel alles andere ist als eine Idylle, stärkt der alltagserfahrene Sergei das Herz des Jungen mit solchen Worten:
„Angst ist verboten, mein Lieber, Angst macht uns klein.“

Appelfeld lässt niemanden allein      

             
Kurz vor Kriegsende wird der alte Mann erschossen, doch Janek kommt durch und wird seinem Retter dann sogar ein würdiges Begräbnis sichern. Und hört, nun zum Vollwaisen geworden, die Worte einer älteren Überlebenden: „Gebt auf diesen Jungen acht. Das ist ein lieber Junge. Er hat niemanden auf der Welt.“
Aharon Appelfeld hat acht gegeben. Keinen seiner Roman-Protagonisten, auch nicht diesen unvergesslichen Janek, hat er alleingelassen, sondern sie stattdessen in einer Sprache geborgen, deren poetische Transparenz hart erarbeitet ist und keinen Platz lässt für auch nur ein unnötiges Wort. In der Tat: Dieser illusionslose und doch grundgütige Schriftsteller hat diese Welt weit mehr als nur ein klein wenig besser gemacht.

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