Antisemitismus

Getragen von der Musik

Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Dorthin sollte der elfjährige Simon Gronowski deportiert werden.
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Dorthin sollte der elfjährige Simon Gronowski deportiert werden. © picture alliance / dpa / CTK / Tesinsky David
Von Benedikt Schulz · 29.08.2014
Durch eine gewagte Aktion belgischer Widerstandskämpfer gelang Simon Gronowski im April 1943 die Flucht vor den Nazis. Heute erzählt er von seiner Rettung und von der Kraft, die ihm die Jazz-Musik in schweren Zeiten gab.
In einem der vielen Konferenzsäle im Europaparlament in Brüssel. Ein kleiner, grauhaariger Mann sitzt an einem Flügel und spielt Jazzmusik. Im Publikum sitzen über hundert Menschen, aller Altersklassen, aus allen Teilen der Welt und lauschen dem Klavierspiel. Bis gerade eben haben sie über eine Stunde lang gebannt den Worten des Mannes am Klavier gelauscht, haben Fragen gestellt, zu seinem bewegten Leben. Sein Name: Simon Gronowski.
18. April 1943 – Simon Gronowski, seine Mutter und rund 1.600 Gefangene eines Nazilagers in Mechelen erfahren, dass sie in der folgenden Nacht in einem Zug nach Auschwitz deportiert werden sollen. Simon ist gerade elf Jahre alt.
In der Nacht des 19. April führen drei belgische Widerstandskämpfer einen wahnwitzigen Plan aus: Mit einer mit rotem Papier beklebten Sturmleuchte gaukeln sie dem Zugführer eine Signallampe vor, bringen den Zug, der die Gefangenen nach Auschwitz transportieren soll, zum Stehen. Sie öffnen einen der Waggons und verhelfen knapp 20 Menschen zur Flucht. Andere Waggons werden von den Insassen geöffnet, bis der Zug die deutsche Grenze erreicht, können weitere 225 Menschen fliehen. Einer von ihnen ist Simon Gronowski.
Seelenverwandt mit Woody Allen
Jahrzehntelang hatte er nur wenig über die Ereignisse in dieser Nacht gesprochen. Das hat sich geändert. Inzwischen spricht er regelmäßig vor Schülern. Und seit wenigen Monaten kann er eine weitere, außergewöhnliche Geschichte erzählen.
"Woody Allen is very kind. I played with him in the Carlyle Café where he play every Monday with his friends… "
Gronowski spricht über Woody Allen – den weltberühmten Regisseur, Schauspieler und Jazzmusiker. Gronowski hat einmal in einem Interview gesagt, er fühle eine Art Seelenverwandtschaft mit Allen. Und das, obwohl die beiden Leben gelebt haben, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Und doch haben sie beide etwas gemeinsam – sie beide lieben Jazz und sie beide können keine Noten lesen.
Mit 82 Jahren konnte sich Simon Gronowski im März dieses Jahres einen lang gehegten Traum erfüllen – einmal mit Woody Allen auf der Bühne stehen. Später an diesem Abend sitzt Gronowski in einer kleinen, überfüllten Bar am Place Luxembourg, direkt gegenüber vom EU-Parlament. Er ist müde, aber die Geschichte seines gemeinsamen Auftritts mit Woody Allen erzählt er mit leuchtenden Augen. Simon Gronowski glaubt, in seinem Leben habe es sechs Wunder gegeben.
Das Treffen mit Allen: "einer meiner schönsten Tage"
Eins dieser Wunder ist seine spektakuläre Flucht aus dem Zug im April 1943. Das sechste Wunder ist sein Auftritt mit Woody Allen. Es begann mit einem Interview, das Gronowski einem US-amerikanischen Journalisten gab, der an Porträts von Holocaust-Überlebenden arbeitete.
"Ich habe ihm gesagt, dass ich davon träume, einmal mit Woody Allen auf der Bühne zu stehen. Ich hab das gesagt, als ob ich sagen würde, ich würde gerne auf den Mond fliegen. Dieser Artikel erschien am 5. Dezember im Wall Street Journal – und nur fünf Tage später war ich schon eingeladen nach New York zu reisen und Jazz mit Woody Allen zu spielen – alles wurde für mich bezahlt. Und es war einer der schönsten Tage in meinem ganzen Leben."
Ein Geschäftsmann aus den USA, Zach Lonstein und der Drehbuchautor David Mamet machten die Reise möglich, vermittelten den Kontakt, übernahmen alle Unkosten. Und obwohl Gronowski keine Gelegenheit hatte, mit Woody Allens Band, der Eddy Davis New Orleans Jazz Band, zu proben, schlug sich Gronowski dermaßen gut, dass Allen ihm am Ende persönlich zu seiner Performance gratulierte.
Ein Jazzsong machte ihm Mut auf der Flucht
"In The Mood" – der US-amerikanische Jazzmusiker Glenn Miller nahm den Song mit seiner Bigband 1939 auf, nur wenige Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkriegs – und landete weltweit einen gewaltigen Hit. Bis heute ist "In The Mood" einer der meistgespielten Jazz-Standards weltweit. Und in der Nacht des 19. April 1943 hatte auch der elfjährige Simon Gronowski das bekannte Riff im Ohr.
"In the Mood war ein großer Hit während des Krieges und meine Schwester liebte diese Nummer. Daher kannte ich das Stück, und als ich in den Wald rannte, nachdem ich aus dem Zug gesprungen war, sang ich es während ich lief und das hat mir Mut gemacht."
Er sei kein professioneller Musiker, Gronowski betont das immer wieder, anders als seine Schwester, die sehr gut Klavier gespielt habe. Seine Schwester Ita wurde in einem späteren Zug nach Auschwitz gebracht, sie und Gronowskis Mutter wurden dort getötet. Der Vater hatte sich während des Krieges verstecken können, doch er starb nur wenige Monate nach dessen Ende.
"Jazz war immer extrem wichtig"
Gronowski studierte Jura, arbeitete jahrzehntelang als Anwalt. Bei allem Unrecht, dass die Nazis verübt hatten, allem Unrecht was seiner eigenen Familie widerfahren war: ein Jurastudium war für ihn ein Weg, dem Unrecht das Recht entgegenzusetzen. Doch als er nach dem Krieg allein zurückblieb, da war es vor allem die Musik, die Jazzmusik, die ihn ins Leben zurückgeholt hat.
"Ich habe meine Schwester immer bewundert. Sie war sieben Jahre älter als ich und sie war eine fantastische klassische Pianistin. Und sie liebte Jazz. Nach dem Krieg begann ich dann auch Jazz auf dem Klavier zu spielen, als Amateur. Jazz gab mir mein Gleichgewicht zurück, er hat mich wieder in die Gesellschaft integriert. Jazz war extrem wichtig für mich."
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