Anthropologe Florian Mühlfried über Vertrauenskrisen

Misstrauen – eine unterschätzte Haltung

25:01 Minuten
Eine Illustration zeigt ein übergroßes Auge, dass einen Mann am Schreibtisch überwacht.
Wer kontrolliert die Kontrolleure? - Wo Regierungen und Unternehmen zu weit in die Privatsphäre hinein spähen, ist Misstrauen angebracht. © imago / Dan Mitchel
Moderation: Christian Möller · 14.07.2019
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Populisten schüren gern Misstrauen gegenüber politischen und anderen "Eliten". Aber Misstrauen müsse nicht in jedem Fall spalten, meint der Anthropologe Florian Mühlfried: Als Anstoß zur Kontrolle der Mächtigen diene es der Gesellschaft.
Politik, Wissenschaft und etablierte Medien, sie alle klagen über schwindendes Vertrauen. Die Krisensymptome polarisierter Gesellschaften – allen voran die Polemik populistischer Bewegungen gegen einen angeblich elitären "Mainstream" – werden häufig als Zeichen für eine Vertrauenskrise gedeutet. Der Sozialanthropologe Florian Mühlfried hält das für zu kurz gegriffen. Appelle an traditionelle Werte wie Aufklärung, Solidarität und Vertrauen verstellen seiner Ansicht nach den Blick auf das positive Potenzial des Misstrauens.

Schutz vor staatlichen Übergriffen

"Wir wissen eigentlich kaum etwas über das Misstrauen und verteufeln es aber doch", sagte Mühlfried im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur. In seinem Essay "Misstrauen. Vom Wert eines Unwerts" schreibt er: "Nicht nur ohne Vertrauen, auch ohne Misstrauen kann Demokratie nicht bestehen." In demokratischen Gesellschaftstheorien spiele das Misstrauen von jeher eine zentrale Rolle zur Begrenzung eines tendenziell "übergriffigen" Staats, der dazu neige, die eigenen Bürger zu kontrollieren und auszuforschen, um seine Macht zu stützen, so Mühlfried. Der Schweizer Schriftsteller und Staatsdenker Benjamin Constant brachte es auf die Formel "Jede Verfassung ist ein Akt des Misstrauens."
Ein halbnahes Porträt zeigt Florian Mühlfried. Er trägt Bart und eine Brille.
Wir sollten das Misstrauen nicht verteufeln: Florian Mühlfried lehrt als Professor für Sozialanthropologie an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilisi, Georgien. © Azret-Ali Afov
Florian Mühlfried unterscheidet verschiedene Arten des Misstrauens, je nach ihrem Verhältnis zur Gesellschaft: Als "zentrifugales Misstrauen" bezeichnet er eine Haltung, die auf der Ablehnung bestehender Werte beruht und dementsprechend aus der Gesellschaft hinaus strebt, bis hin zum radikalen Bruch mit ihr. Diese Tendenz zeigen nach seiner Beobachtung "dschihadistische und andere sektiererische Gruppierungen". Aber auch das pauschale Misstrauen, das populistische Bewegungen wie Pegida gegenüber etablierten Experten oder sogenannten "Mainstreammedien" propagierten, könne zur "Zersetzung oder Unterhöhlung von Fundamenten der Gesellschaft" führen.

Vertrauen kann man nicht verordnen

Im Unterschied dazu bezeichnet Mühlfried ein von Skepsis getragenes Engagement im Sinne des Allgemeinwohls als "zentripetales Misstrauen". Hierzu gehören für ihn Hacker, die kritisch beobachten, wie staatliche Institutionen mit Daten umgehen, Umweltschützer, die Strahlen messen, um offizielle Zahlen zu überprüfen, oder Bürgerrechtsinitiativen – kurz: "Menschen, die ihr Misstrauen konstruktiv benutzen wollen, um für die Verbesserung der Gesellschaft zu wirken."
Florian Mühlfried warnt davor, Misstrauen grundsätzlich zu diskreditieren: "Es ist wichtig, den Menschen die Möglichkeit zu geben, sich ihres Misstrauens nicht zu schämen." Denn wo Vertrauen pauschal eingefordert werde, sagt Mühlfried, wachse am Ende nur der Unmut derjenigen, für deren Misstrauen es keinen Raum gebe, und ihre Tendenz, sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft zu begreifen. Gleichzeitig beobachtet er mit Sorge, wie die Verurteilung von destruktivem Misstrauen die Diskussionskultur insgesamt verändert: "Diese ganzen Rufe, man solle jetzt seine Anti-Mainstream-Rhetorik suspendieren, weil man sonst den Rechten damit in die Hände spielt. Das halte ich für eine große Gefahr."
(fka)

Florian Mühlfried: Misstrauen. Vom Wert eines Unwerts
Reclam Verlag, Stuttgart 2019
88 Seiten, 6 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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