Grete Weil: "Ans Ende der Welt"

Die letzten gemeinsamen Stunden im Viehwaggon

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Auf dem Cover ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme der Autorin sowie ihr Name und der Buchtitel zu sehen.
© Verlag Das Kulturelle Gedächtnis

Grete Weil

Ans Ende der WeltDas kulturelle Gedächtnis, Berlin 2022

95 Seiten

18,00 Euro

Von Stephanie von Oppen · 13.07.2022
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Grete Weils „Ans Ende der Welt“, ein beeindruckendes Zeugnis der Deportation niederländischer Juden, wird jetzt wieder aufgelegt. Auf 95 Seiten entfaltet Grete Weil mit einem ganz eigenen literarischen Ton das ganze Universum des Schreckens.
Grete Weil, die 1906 in eine wohlsituierte Münchner Familie hinein geboren wurde, soll sich bis zur Machtergreifung eher als Bayerin denn als Jüdin gefühlt haben. Sie liebte die Berge, verkehrte in intellektuellen Kreisen, war unter anderem mit Klaus und Erika Mann befreundet.
Sie studierte Germanistik und schrieb bald ihre ersten Texte. Als Studentin engagierte sie sich in linken Gruppen. Vor den Nazis floh sie nach Holland. Dort machte sie sich mit einem Fotoatelier selbstständig. 
Als Holland von den Nazis besetzt wurde, ging sie in den Widerstand und arbeitete im jüdischen Rat von Amsterdam, bis sie untertauchte und sich ähnlich wie die Familie der Anne Frank hinter einer Bücherwand versteckte. Diese Erfahrung hat sie in dem Roman „Tramhalte Beethovenstraat“ verarbeitet. Der Verlag Kulturelles Gedächtnis hat es 2021 neu aufgelegt.
Und nun also das schmale Buch „Ans Ende der Welt“, das sie vier Jahre nach dem Krieg geschrieben hat und das erste Zeugnis der Deportation holländischer Juden sein soll.

Ein großer Irrtum?

Schon in der ersten Szene des Buchs entfaltet sich die ganze Dynamik von Macht, Willkür, Demütigung, Ohnmacht, Überlebenswillen bis hin zum Verrat: In einer holländischen Stadt, wahrscheinlich Amsterdam, folgen deutsche SS-Offiziere ihrem Auftrag, die jüdische Bevölkerung zur Deportation zusammenzutreiben. Darunter der honorige Universitätsprofessor Salomon Waterdrager mit seiner Familie, der das Ganze für einen großen Irrtum hält und beharrlich auf ein wertloses Papier verweist, das ihn vom sogenannten Arbeitseinsatz freistellen soll.
Doch der Offizier erfüllt mit gleichgültiger Kälte seinen Auftrag, steckt nebenher noch eine goldene Taschenuhr ein, der zutiefst anständige Professor fügt sich in sein Schicksal, kleidet sich zum Abtransport in seinen feinsten Anzug und die Tochter entwickelt eine Wut gegen die eigenen Eltern statt gegen die NS-Schergen und ertappt sich bei dem Gedanken, dass ihr das Leben der Eltern egal ist, wenn nur sie selbst überlebt.

Prophezeiung einer Wahrsagerin

In ein vor Dreck starrendes Theater werden die Juden gebracht, überall Nazi-Funktionäre, die mit scheinheiliger Freundlichkeit Hoffnung säen und mit nackter Brutalität foltern. Ein junger Mann im Fokus der Nazis, weil er zuvor im Untergrund gearbeitet und verfolgten Juden geholfen hat. Zwischen ihm und der Professorentochter entspinnt sich eine Liebesgeschichte und selbst an diesem unwürdigen Ort gelingt es dem Paar, einen Funken dieser Liebe auch zu leben.
Schwarzweiß Aufnahme von Menschen mit Gepäck, die in einen Güterzug einsteigen
Deportation holländischer Juden im zweiten Weltkrieg© imago / United Archives
Eine Wahrsagerin hatte der jungen Frau einmal prophezeit, dass sie eines Tages ihre große Liebe finden würde, um mit ihr „Ans Ende der Welt“ zu gehen. Ihre letzten gemeinsamen Stunden verbringen sie in einem Viehwaggon – ihr Ende der Welt ist ein KZ.

Autorin versteht es, kunstvoll zu verdichten

Es ist eine Offenbarung, Grete Weil als Literatin mit einem ganz eigenen Ton zu entdecken. Sie ist eine Sprachkünstlerin und eine sehr genaue Beobachterin. Und ihr oft geradezu lakonisch distanzierter Tonfall macht die menschliche Tragödie noch greifbarer. Ihr gelingt es, mit wenigen Worten komplexe Charaktere zu zeichnen. Und sie beherrscht auf grandiose Weise die Kunst des Dialogs in knappen Sätzen. 
Auf 95 Seiten versteht es Grete Weil kunstvoll zu verdichten, sodass sie das Ungeheuerliche in all seinen Facetten zeigen kann und die menschliche Psyche in einer solchen Extremsituation bis ins feinste ziseliert beschreibt.
Dieses schmale Buch ist einmal mehr ein großartiger Roman über den Holocaust und über unsere menschliche Existenz.