Anorexie bei älteren Frauen

"Das haben doch nur junge Mädchen"

29:05 Minuten
Ein Lichtstrahl fällt auf die Füße einer sonst nicht sichtbaren Person, die auf einer Waage steht.
Menschen mit Magersucht leiden in der Regel an einer gestörten Selbstwahrnehmung: trotz Untergewicht empfinden sie sich selbst als zu dick. © imago / Westend61
Von Eva Förster · 11.11.2021
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Vor allem junge Mädchen sind von Magersucht betroffen. Aber auch immer mehr ältere Frauen werden krank. Hilfsangebote gibt es für sie aber kaum. Ist es deswegen auch schwerer, die Anorexie bei ihnen zu erkennen?
"Ano… was?" – Vielen Menschen geht das durch den Kopf oder von den Lippen, wenn sie das Wort Anorexie hören. Oder: Sie ist eine Anorektikerin. Klar habe ich immer wieder von Magersucht gehört und gelesen. Von mehrheitlich jungen Mädchen, die sich fast zu Tode hungern, die sich dick finden, selbst wenn nichts mehr an ihnen dran ist. Aber dass auch erwachsene Frauen magersüchtig sind oder werden können und dass ihre Zahl zunimmt, das habe ich nicht gewusst.
"Wenn eine Magersucht nach dem 25. Lebensjahr entsteht, wird von einer Spätanorexie gesprochen. Auslöser können schwere Krisen im Leben, der veränderte Körper nach der Geburt eines Kindes, jahrelange Diäten oder die Angst vor dem Älterwerden sein."

Das Feature ist eine Wiederholung vom 08.10.2020.

Genaue Zahlen dazu finde ich nicht. Auch wenn es in einer Ausgabe der "Apotheken Umschau" von August 2020 heißt: "Laut Hochrechnungen der Barmer Krankenkasse waren im Jahr 2016 insgesamt rund 93.000 Personen in Deutschland wegen einer Anorexia nervosa in Behandlung. 93 Prozent von ihnen waren weiblich und fast jede Dritte älter als 40 Jahre. Denn Magersucht ist längst keine Pubertätskrankheit mehr: Allein für den Zeitraum von 2011 bis 2016 verzeichnet die Kasse bei den über 40-Jährigen eine Zunahme der Diagnosen um 19 Prozent."

Magersucht ist mit Scham behaftet

Ich fange an, mich in das Thema immer mehr einzulesen. Denn bevor ich Betroffene befrage, will ich verstehen, was eine Anorexie ausmacht.
"Typisch für eine Magersucht ist ein starker Gewichtsverlust oder anhaltendes Untergewicht. Betroffene haben Angst davor, zuzunehmen oder zu dick zu sein. Daher schränken sie ihre Nahrungsaufnahme ein und nehmen immer weiter ab. Obwohl sie auffallend dünn sind, empfinden sie sich selbst als unförmig und dick", lese ich auf der Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Warum aber ist das so? Was machen Menschen, die an Magersucht erkrankt sind, mit ihrem Hungergefühl? Verlieren sie das? Und sind die älteren Frauen früher schon krank gewesen, nehmen sie ihre Krankheit aus der Jungendzeit mit?
Es wird Zeit, dass ich Menschen suche, die mir zu dem Thema etwas sagen können. Und lerne schnell: Magersucht ist, wie viele psychische Erkrankungen auch, mit Scham behaftet. Vor allem dann, wenn man erwachsen ist, wenn man das Leben dem Klischee nach im Griff haben soll. Dann wollen viele nicht über ihre Krankheit reden.

Übergänge zwischen Essstörungen sind fließend

"Zunächst begann es mit einer Diät, als ich 13 war. Ich hatte mich in meinem Körper immer schon unwohl gefühlt. Ich nahm sehr stark ab und konnte das Abnehmen nicht mehr steuern. Meine Eltern haben dann klare Vorgaben gemacht, wie ich essen soll. Ich habe rasch wieder zugenommen, aber das Gefühl für Hunger und Sättigung völlig verloren. Ich konnte mit dem Essen nicht mehr aufhören und habe aus Angst vor weiterer Gewichtszunahme angefangen zu Erbrechen."
Auch das ein Zitat von der Homepage der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Offensichtlich kann es sein, dass die Übergänge zwischen den Essstörungen fließend sind, also dass auf eine Magersucht eine Binge-Eating-Störung oder Bulimie folgt.
"Das Hauptsymptom einer Bulimie sind regelmäßige Essanfälle. Bei so einem Anfall essen Betroffene innerhalb kurzer Zeit deutlich mehr als die meisten Menschen in einer vergleichbaren Situation. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme führen Patientinnen und Patienten Erbrechen herbei oder nutzen Medikamente wie Appetitzügler, Abführmittel oder entwässernde Stoffe.
Menschen mit einer Binge-Eating-Störung leiden unter immer wiederkehrenden Essanfällen. Sie nehmen innerhalb kurzer Zeit große Nahrungsmengen zu sich und haben das Gefühl, die Kontrolle über ihr Essverhalten zu verlieren. Bulimie und vor allem Binge-Eating-Störung beginnen meist etwas später als die Magersucht, also vorwiegend im späteren Jugendalter und jungen Erwachsenenalter."

Toxische Tipps auf Pro-Ana-Seiten

Ich habe schon einige Bücher bestellt. Das erste, das ich in den Händen halte, ist von Lea Gericke geschrieben. Ich habe die 32-jährige Berlinerin in einem Fernsehinterview gesehen und dort erfahren, dass sie in der Selbsthilfe tätig ist. Ihr Buch heißt "Ana dismissed". Also Ana von Anorexie und dismissed wie weggehen lassen.
Aber Ana im Buchtitel ist auch eine Anspielung auf die sogenannte Pro-Ana-Seiten im Internet, die Scharen von Mädchen und Frauen anziehen und die nahezu sektenhaft-religiös Ana verehren. Ana, die hier eine fiktive Person ist, schreibt ihren Jüngerinnen Briefe und sie gibt toxische Tipps wie: "Iss doch Watte, Moppelchen!"
Diese Seiten gehören eindeutig auf den Index. Ich lese auf der Seite des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: "Das Gefährliche an den Pro-Ana-Foren liegt in den schon fast konspirativen Zügen, in dem Eingebundensein in eine Gemeinschaft, die als Stütze erlebt wird, aber letztlich krankheitserhaltend ist."

Das Hungern als Faszinosum

Während ich mich riesig über die Zusage von Lea Gericke für ein Interview freue, habe ich auf meine vielen Mails mit der Bitte um ein Interview von den niedergelassenen Psychotherapeuten noch keine Antworten bekommen. Ich frage mich langsam, wieso – und beschließe, später nachzufragen, woher diese Zögern oder gar Ablehnung des Themas kommen könnte.
1873 bekam diese Krankheit, die mit wunderlicher Appetitlosigkeit einhergehen sollte, den Namen Anorexia nervosa. Und schon wurde eine meiner Fragen teilweise beantwortet: mit dem psychisch bedingten Appetitmangel kommt man der Sache, ob die Betroffenen keinen Hunger haben, schon näher. Wahrscheinlich haben die Erkrankten, egal welchen Alters und Geschlechtes, sehr wohl Appetit. Aber irgendetwas anderes stimmt nicht in ihrem Leben, in ihrer Psyche.
Es geht ihnen vielleicht wie dem Hungerkünstler in Franz Kafkas gleichnamiger Erzählung, denke ich. "Vielleicht war er gar nicht vom Hungern so sehr abgemagert, sondern er war nur so abgemagert aus Unzufriedenheit mit sich selbst." Einst gab es das Schauhungern des "Fahrenden Volkes". Es lebten hungernde Mystikerinnen, die vor lauter Verzicht Visionen hatten. Das Hungern übt auf jeden Fall eine Faszination aus, die heute in der Gestalt von Diätwahn, Germanys Next Topmodels und fast schon dürren Hollywoodschauspielerinnen und Instagram-Stars daherkommt.

Suizid auf Raten

An einem schönen Sommermorgen treffe ich meine erste Interviewpartnerin Lea Gericke. Sie selbst war mehr als zwölf Jahre magersüchtig, wog in ihrer schlimmsten Zeit noch 27,1 Kilogramm, wurde per Magensonde ernährt und hat jetzt das Riesenabenteuer begonnen, anderen zu helfen, die mit Nahrung Probleme haben.

"Im Grunde ist eine Essstörung, eine Anorexie, ein Suizid auf Raten. Wenn dich die komplette Thematik, die dort Leben heißt, komplett überfordert, dann ist es vielleicht nicht der Entschluss zu sagen, okay, wo ist die nächste Brücke, sondern eher ein Gefühl, was aus dem Unterbewusstsein kommt. Und für mich kommt eine Essstörung definitiv aus dem Unterbewusstsein, die da lautet, irgendwie bist du dem Leben nicht gewachsen."
In der Tat ist die Anorexie die psychische Erkrankung mit der höchsten Mortalitätsrate. Auch, weil Depressionen und Zwänge oft gleichzeitig mit der Essstörung auftreten. Menschen mit Magersucht haben ein achtzehnfach höheres Risiko, sich das Leben zu nehmen. Lea Gericke erklärt mir, was hinter ihrer Erkrankung stand.
"Ich hab mich nie so richtig wohl gefühlt in mir, was ich in meiner Kindheit Jugend auf meinen Körper projiziert habe, was ich aber jetzt ganz gut einordnen kann, was einfach mein Inneres betrifft oder betraf. Ich war mir nie so wirklich sicher meiner Person."
In dieser Situation gab der damals Zwölfjährigen eines Halt: "Diese Gewissheit, okay, wenn ich nichts esse, dann ist zumindest da Ruhe. Also wenn ich nichts esse, dann bin ich auf der sicheren Seite."

Die Magersucht gewinnt an Macht

Aber dann passierte etwas, was viele Betroffene kennen. Lea Gericke entglitt das Ganze, die Magersucht übernahm die Macht – und gab sie nicht mehr so leicht aus der Hand. "Dieses tägliche Justieren über Wochen, Monate, Jahre, Jahrzehnte, was esse ich, wie viel, wann esse ich, esse ich überhaupt, vor wem esse ich, kann ich das essen. Kein Wunder, dass die Lebensfreude, die Energie ausstirbt in dir."
Das Zunehmen, entweder im Krankenhaus, auf einer Kur oder während einer ambulanten Psychotherapie, birgt nicht nur die Tücke, dass sich die Erkrankten dann zu dick fühlen, da sie eine Störung in der Körperwahrnehmung haben, sondern es hat seelische Auswirkungen.
"Wenn du Gewicht zunimmst, da sind dann plötzlich Gefühle, die du über Jahre einfach immer weggehungert hast, und das sind nicht nur schöne Gefühle. Es sind eben auch Gefühle von Selbstzweifel: Was machst du mit den anderen. Jetzt gehst du den anderen auf den Keks. Du hast nicht mehr dieses Krank-Label. Und unter anderem das macht den Heilungsweg so schwer."

Ich-Spaltung und körperlicher Zerfall

Ich lese gefesselt das Standardwerk über Magersucht, das bereits in den 1980ern erschienen ist. "Der goldene Käfig. Das Rätsel der Magersucht" heißt es und wurde von Hilde Bruch geschrieben.

"Viele der alarmierenden Symptome – wie Ich-Spaltung, De-Personalisierung, schwere Ich-Defekte – stehen in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Hungern selbst. Erst wenn die schlimmsten Auswirkungen der Unterernährung gemildert sind, lässt sich eine sinnvolle psychiatrische Einschätzung und Bewertung vornehmen."

"Eine Magersucht in der Öffentlichkeit – vor allem das Bild von einem jungen Mädchen: Die meisten wachsen da dann raus", sagt Lea Gericke. "Es gibt allerdings die Fälle, die seit sie 13, 14, 15 sind, magersüchtig sind. Man darf nicht vergessen, man sieht sie nicht allzu oft, weil so alt werden Menschen mit so einer schweren Erkrankung nicht."
Auch mit dem scannenden Blick, den ich mir mittlerweile angewöhnt habe, erfasse ich keine älteren Frauen, die – wie man so sagt – "unnormal dünn" sind. Aber es gibt sie.
"Ich habe so eine Begegnung in einer der Kliniken gemacht und das hat mich wirklich sehr abgeschreckt. Bei dieser Frau war es nicht nur dieser körperliche Verfall, sondern eben auch: Da ging gar nichts. Das war einfach nur krank. Da hat wirklich die Essstörung die Persönlichkeit vollkommen ausgelöst."
Es sind krasse Aussagen, dass die meisten der Magersüchtigen ja nicht sehr alt werden oder dass sich die Persönlichkeit nach und nach verändert. Aber der Blick in die Fachbücher bestätigt, dass die Erkrankung das Gehirn schrumpfen lässt und die Konzentrations- und Merkfähigkeit massiv einschränkt.

Nichts spüren müssen

Auch die Emotionen werden flacher durch die Anorexie, lese ich. Nichts spüren müssen, das scheint neben der Euphorie, die durch das Hungern ausgelöst werden kann, ein Hauptziel vieler Mädchen und Jungen, Frauen und Männer zu sein.
Lea Gericke hat inzwischen viele Selbsthilfegruppen gegründet. Alle unter dem Dachverband SEKIS, einer Selbsthilfe Kontakt- und Informationsstelle und in der Zusammenarbeit mit der AOK Nord. Wie viel ältere Magersüchtige trifft sie aber in den Gruppen?
"Vielleicht eine auf zehn, könnte gut hinkommen. Und dann in den Angehörigengruppen: Wir haben eine Tochter einer an Anorexie Erkrankten. Wir haben eine Schwester einer an Anorexie Erkrankten, und die beiden sind auch schon über fünfzig."
Vielleicht gibt es einen Grund dafür, dass die älteren Erkrankten nicht so sichtbar sind oder es erst langsam werden.
"Es gibt wenig Ansprechpartner für länger Erkrankte beziehungsweise fühlen sich Menschen mit diesem Krankheitsbild oder dieser Problematik irgendwann nicht mehr angesprochen von den Angeboten. Das habe ja selbst ich erlebt und damals war ich Mitte 20. Nach zehn, zwölf Jahren wurde ich auch einfach abgeschoben. So wirklich Chancen gibt dir keiner mehr."

Keine Zeit für Lebensplanung

Ein Thema, das mir auch später im Verlauf der Recherche wiederholt begegnen wird, ist das der beruflichen Laufbahn der an Magersucht erkrankten Menschen.
"Es ist auch kein Geheimnis, dass viele ältere Betroffene halt auch einfach keine Karriere haben, nichts, weil: Wenn du den ganzen Tag damit beschäftigt bist, wie kommst du mit dem Essen klar, da bleibt halt wenig Kapazität für die Lebensplanung."
Ganz anders verhält es sich allerdings mit der Lebensplanung der vierzigjährigen Anke Hermann. Sie ist gut organisiert und bekommt Beruf, Familie, Haushalt und ihren Sport unter einen Hut. Sie ist schon länger an Magersucht erkrankt.
Anke Hermann arbeitet bei der Bundespolizei. Sie hat zwei Kinder. Dass sie schwanger werden konnte, erscheint mir wie ein Wunder, denn oft geht starkes Untergewicht mit dem Ausbleiben der Menstruation einher. Anke Hermann erzählt mir etwas, das meinen Blick auf ein ganz neues Thema lenkt.
"Der ausschlaggebende Punkt war, dass mein Papa, als ich einmal nach Hause gefahren bin, gesagt hat, er möchte mich nicht mehr sehen, weil er es nicht mehr erträgt. Und da hab ich dann gedacht, was ist denn jetzt. Ich habe die Welt nicht mehr verstanden, habe im Badezimmer gestanden und habe geheult, was ist denn mit meinem Papa los. Und da hab ich mich das erste Mal im Spiegel gesehen, wie mich die anderen Leute sehen. Also wirklich wie eine alte verschrumpelte Hexe. Da wurde mir bewusst, dass ich krank bin."
Während Anke erzählt, frage ich mich, ob es sehr viele neu erkrankte ältere Frauen gibt oder ob bei vielen die Essstörung, die sie in der oder vor der Pubertät gehabt haben, in der einen oder anderen Form wieder aufflammt?
"Letztes Jahr im August, da ist mein Gewicht wieder bloß so um die 50 Kilo gewesen. Da hab ich das erste Mal – aber nur, weil mein Mann immer sagte, du bist krank, tu was, der hat sich immer Sorgen gemacht –, da hab ich das erste Mal gedacht: Stimmt, alleine, ohne Hilfe kriegst du das nicht hin. Du machst dir was vor. Klar isst du, aber nicht normal. Klar hältst du deinen Körper irgendwie am Laufen, aber wer weiß wie lange? Mir fehlen ja alle Nährstoffe, alles was es so gibt, hat ja mein Körper nicht. Das war das erste Mal, dass ich was für mich getan habe und in so eine Klinik gefahren bin."

Die Familie leidet mit

Ob Vater oder Ehemann, ob Kind oder Großmutter – wie bei anderen psychisch Kranken leiden auch die Angehörigen. Wie lange sie den Druck aushalten, sieht man auch an Ankes Familie.
"Ich koche und backe für mein Leben gerne. Alles hier ist öko, gesund. Ich selber gönne es mir nicht. Mahlzeiten zusammen? – Ich setz mich mit hin, aber das war es dann auch. Ist natürlich schade und extrem anstrengend für die Familie. Schlimmer ist es für die Kinder, klar, was denken die denn, warum ich es nicht mache. Es kommen ja auch Fragen und Sorgen. Gerade mein Großer, der kriegt es alles hautnah mit und freut sich über jedes Gramm: Oh, Mama hat wieder zugenommen. Dann freut er sich, wenn er sieht, der Lebensmut kommt wieder zurück."
Erst in einer Klinik lernte Anke Hermann, dass ihre Krankheit tiefere Ursachen und auch Begleiterkrankungen hat.
"Weil ich gemerkt habe: Ich bin ja auch noch da, mich gibt es. Ich kann mich fühlen, ich bin da, aber ich hab mich selber nur nie gesehen. Ich hab immer die anderen gesehen, aber das Gefühl zu haben, dass man Bedürfnisse hat. Das Wort Bedürfnis war für mich nicht da und das habe ich da eben kennengelernt auf der Kur. Da bescheinigt zu bekommen, dass ich wirklich ein von Depressionen und Zwängen belastetes Leben habe."

Das Grundproblem liegt oft in der Familie

Viele Magersüchtige ziehen sich sozial zurück. Sie sind ohne Elan oder einfach kraftlos. Ein Body-Maß-Index (BMI) von unter 17,5 gilt bislang als ein Symptom der Magersucht. Viele aber erreichen nicht einmal den. Und das hat Folgen.
"Blutarmut, Ausbleiben der Regelblutung, Osteoporose, trockene Haut, brüchige Nägel, Haarausfall, Frieren, Herzrhythmusstörungen, Verdauungsprobleme, Kreislaufprobleme" –Hilde Bruch stellt in ihrem Buch klar: Das Grundproblem der Anorexie liegt in der Familie. Es sind oft sehr gut gestellte Familien, aus denen magersüchtige Kinder hervorgehen.
Ehrgeizige Väter, aufopferungsvolle Mütter, bildungsorientiert, verwöhnend, aber eben auch stark leistungsorientiert. In diesen Familien wird nicht offen über Probleme gesprochen. Es gibt eher manipulatives, dysfunktionales Verhalten als eine Streitkultur, heißt es in "Der goldene Käfig" von 1982.
"In der Lebensgeschichte von Magersüchtigen entdeckt man mit großer Regelmäßigkeit, dass vom Kind ausgehende Hinweise nicht anerkannt oder bestätigt worden sind. In solchen Familien werden Wachstum und Entwicklung als Leistungen der Eltern, nicht des Kindes verstanden."
Müssen also auch Eltern in Therapie, wenn eins ihrer Kinder an Magersucht erkrankt? Ich treffe Silvia Baeck und Manfred Jannicke im NHW, einem freien Träger der Jugendhilfe und des Kinderschutzes, der auch Wohngemeinschaften unterhält. Silvia Baeck ist seit der Gründung in den Achtzigerjahren bei dem Beratungszentrum bei Ess-Störungen e.V. Dick & Dünn maßgeblich tätig. Manfred Jannicke ist bei NHW Geschäftsführer.
Mich interessiert das Elternthema, das bei Hilde Bruch so eine dominante Rolle spielt. Trifft das auch noch auf ältere Erkrankte in ihren 40ern, 50ern, ja 60ern zu?
"Wir haben ja auch Erwachsene, die zu uns kommen und lange Zeit schon essgestört sind. Wenn ich das dann anspreche, was ist denn mit ihren Eltern, das wird gar nicht verstanden, dass die immer noch wirken. Die wirken auch noch, wenn ich 50 bin. Das soziale Umfeld einschließlich der Eltern, wenn sie denn noch leben, sollen einbezogen werden. Viele sagen, dass trifft nur auf Junge zu, das ist Quatsch."
Mir fällt dazu ein Interview mit der Hollywoodschauspielerin Keira Knightley ein, dieser sehr dünnen, androgyn wirkenden Frau, in dem sie gefragt wird: Sind Sie magersüchtig? Nein, antwortet sie geduldig. Sie könne essen, was sie wolle, und das seien halt ihre Gene. Ich lese weiter. Und lerne, dass aber ihre Großmutter und ihre Urgroßmutter magersüchtig waren. Auch das steckt also in ihren Genen, sagt Manfred Jannicke:
"Wir haben nicht selten junge Frauen bis zum 25. Lebensjahr etwa, die bei uns sind, und wir erfahren dann, dass die Mutter und sogar die Großelterngeneration bereits von Essstörung betroffen ist. Also man spricht von einer familiären Vererbung, das ist eine Vererbung über familiäre Strukturen und Verhalten und Kommunikation vor allem. Daher wissen wir, dass es eine ganz große Anzahl von erwachsenen Frauen geben muss, die mit einer Essstörung in ihrem aktuellen Leben umgehen müssen. Und das war der Ausgang, dass ich gesagt habe, wir wollen ein angemessenes Wohnangebot auch für erwachsene Frauen anbieten."

Lebenskrisen rufen Essstörungen wieder wach

Manfred Jannicke versuchte von 2008 bis 2012 eine Wohneinrichtung für ältere Erkrankte zu gründen. Zunächst war er sogar bis zur Gesundheitssenatorin vorgedrungen und alles lief gut. Dann ging es mit der speziellen Berliner Zuständigkeitsverteilung finanzieller Lasten von der Landesebene zurück zu den Bezirken und so weiter. Irgendwann gab er zähneknirschend auf. Jetzt ist er wieder an der Gründung eines niedrigschwelligen Hilfsprojektes dran, explizit für ältere Erkrankte. Ich frage Manfred Jannicke warum, denkt er, erkranken Frauen jenseits der Pubertät?
"Wir wissen, dass im höheren Alter Lebenskrisen das antriggern: Da ist der Lebenspartner gestorben. Da ist eine große Lebenskrise. Da ist vielleicht eine Trennung. Und dann wird das alte Verhalten wieder wach, was in der Kindheit oder Jugend erworben wurde oder unter irgendwelchen Umständen erworben werden musste. Ich denk jetzt an die Nachkriegsgeneration."
Das klingt einleuchtend. Aber warum habe ich bisher keine Rückmeldung von niedergelassenen Therapeuten bekommen – obwohl ich seit Monaten Anfragen verschicke? Gibt es irgendein Stigma der Erkrankung oder gar der Erkrankten, über das die Fachleute nicht gerne reden?
"In so einer Einrichtung etwa wie ‚Die Zwiebel‘ in Berlin, sehr bekannt, sehr engagiert. Aber da gibt es aus der Gruppierung von Menschen mit einer Essstörung und anderen psychischen Erkrankungen das Problem, dass die, die eine Essstörung haben, erstens im Alltag wahnsinnig stören, weil alle auf sie Rücksicht nehmen müssen, und andererseits auch wahnsinnig nerven."
"Ja, die sind sehr klug und diskutieren alles und sind sehr in der Kopfebene und machen nicht einfach alles mit, und das ist für die anderen schwierig. Außerdem haben sie häufig ausgeprägte Kontrollvorstellungen, also fast schon Zwänge und beobachten sich andauernd oder die anderen, und das führt natürlich unweigerlich zu Konflikten."

Auch Sissi war anorektisch

Nach dem Gespräch mit Silvia Baeck und Manfred Jannicke fahre ich nach Hause und schaue in Internetforen, ob es dort ältere Erkrankte gibt, die sich äußern. Und tatsächlich: Nach längerer Suche werde ich fündig.
"Hallo ihr Lieben. Also ich bin 54 und habe seit etwa 30 Jahren chronische Magersucht. A-typisch. Das heißt, ich habe magersüchtige Phasen und dazwischen lange Zeiten, in denen ich Normalgewicht habe. Das heißt aber nicht, dass ich normal esse. Nun habe ich seit circa 1,5 Jahren eine sehr intensive Phase. So niedrig war ich noch nie. Bin 1,65 groß und wiege derzeit zwischen 43 und 44 Kilogramm", heißt es auf der Plattform paradisi.de.
"Magersucht mit 51 Jahren. Seit Jahren habe ich mit Depressionen zu kämpfen. Vor vier Jahren bin ich in die Wechseljahre gekommen, was für mich sehr viele starke Nebenwirkungen mit sich bringt. Davon ist eine meine Essstörung. Es fing vor circa zwei Jahren an, seit nur circa einem halben Jahr merke ich zunehmend, dass es nicht so weitergehen kann, und ich bekomme Angst vor mir."
Sich in der Internetwelt der Essgestörten zu bewegen, ist aufreibend. Ich gerate förmlich in einen Strudel, der mich immer tiefer hineinzieht. Mich zu distanzieren fällt mir zunehmend schwerer.
Sissi, die beliebte schöne Kaiserin Österreichs, hatte mit Sicherheit Appetit auf die in ihren Kreisen servierten Köstlichkeiten. Was sie jedoch aß, war eine Orangen-, Ei- oder Milchdiät. Es wird erzählt, dass sie manchmal zu Mittag nur ein gesalzenes rohes Eiweiß verzehrte. Darüber hinaus hatte sie einen Sportraum, in dem sie Leibesübungen vollführte und sie ritt ausdauernd. Sissi soll bei einem Meter zweiundsiebzig zeitweise nur 50 Kilogramm gewogen haben. Sie gilt heute als anorektisch.

Therapien gezielt für ältere Magersüchtige fehlen

Für meine Sendung fehlt mir immer noch eine Psychotherapeutin oder ein Therapeut, die gezielt Therapien für ältere Magersüchtige anbieten. Sogar meine Familie in Nürnberg hilft mir bei der Suche, und wir haben Glück. Christiane Waller ist Leiterin der Psychosomatischen Station im Klinikum Nord in Nürnberg.
Es ist August 2020, als ich ihr und Alexandra Kranzeder gegenübersitze. Alexandra Kranzeder ist extra aus Ulm angereist, wo sie Oberärztin der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist.
"Aus meiner Sicht ist es nicht neu, dass auch Ältere erkranken. Es wird nur häufiger auffällig, und man schaut gesellschaftlich mehr hin", meint Christiane Waller. "Da hat man früher einfach nicht hingeschaut. Je jünger die Frauen sind, desto schlechter die Prognose, weil es einfach schon länger auftritt. Je später die Anorexie auftritt, desto günstiger auch. Es gibt Chronifizierungen auch von langjährigen Anorexien, wo man dann nicht von Heilung spricht, sondern von chronischen Erkrankungen mit chronischem Untergewicht bis in das höhere Lebensalter hinein.
Es scheint also doch so zu sein, dass wenige erst im höheren Alter neu an einer Essstörung erkranken, sagt auch Alexandra Kranzeder: "Ich kann jetzt im Moment nur von Einzelfällen berichten. Da war es aber so, wenn man weit genug in der Anamnese zurückgeht, in der Biografie zurückgeht, dass zumindest in der Pubertät irgendeine Form der Essstörung vorhanden war, die sich dann gegeben hat oder sublatent immer wieder da war, immer wieder geguckt, bin ich zu dick, die Nahrung reguliert. Die Patienten, die ich jetzt meine, kamen nicht mit der Eintrittskarte, ich habe eine Anorexia nervosa, sondern ich habe eine Nahrungsmittelunverträglichkeit. Ich kann plötzlich diese und jene Nahrungsmittel nicht mehr vertragen, ich esse immer weniger, weil ich es nicht mehr vertrage und in der Behandlung hat sich gezeigt, dass das gar nicht das Problem ist, sondern dass die sehr wohl die Nahrungsmittel vertragen haben, aber etwas anderes kompensiert wurde."

Der Blick in die Statistik

Wie sieht es denn eigentlich mit den Heilungschancen für Magersucht aus? Ich schaue in die Statistik und lerne: Circa 30 Prozent der Patientinnen und Patienten gelten nach einer Behandlung als vollständigen geheilt. Sie erreichen das Normalgewicht. 35 Prozent nehmen zu, bleiben aber untergewichtig. Bei etwa 25 Prozent, also bei einem Viertel bleibt die Krankheit chronisch bestehen und etwa zehn Prozent der Erkrankten sterben.
"2018 starben deutschlandweit 46 Menschen aufgrund von Essstörungen. Die Zahl ist damit gegenüber dem Vorjahr um rund 40 Prozent gesunken. Den traurigen Höchststand der letzten Jahre weist das Jahr 2008 mit 100 Todesopfern aus."

Das sind die Zahlen von statistika.com, wie viele davon ältere Magersüchtige waren, weiß ich nicht. Die Zahlen dazu fehlen. Anorexia im Alter ist noch ein Nischenthema. Dass sich das ändern muss, weiß auch Lea Gericke. Ab Oktober 2020 bietet sie eine Selbsthilfegruppe gezielt für Menschen ab 40 Jahren an. Ein erster Schritt. Ein wichtiger.
Redaktioneller Hinweis: Wir haben das ursprüngliche Artikelbild getauscht, da es zu wenig verdeutlichte, dass Anorexie eine sehr schwere Krankheit ist.

Sprecherinnen: Eva Förster und Simone Kabst
Regie: Roman Neumann
Ton: Jan Fraune
Redaktion: Kim Kindermann

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