Annie Ernaux über ihren Roman "Eine Frau"

Schreiben unter dem Eindruck des Todes

12:28 Minuten
Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux dunkel gekleidet mit Blick in die Kamera beim International Book Festival in Edinburgh.
Manche vergleichen sie mit Proust: die französische Schriftstellerin Annie Ernaux. © picture alliance / Ger Harley
Moderation: Joachim Scholl · 27.11.2019
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Die französische Autorin Annie Ernaux erzählt radikal ehrlich von ihrem eigenen Leben. Ein Buch über ihre Mutter ist nun in neuer Übersetzung erschienen. Ein Gespräch über das Schreiben und die damit verbundene Suche nach Erkenntnis und Wahrheit.

Am 6. Oktober 2022 gab das Nobelpreiskomitee bekannt, dass Annie Ernaux mit dem Literaturnobelpreis 2022 ausgezeichnet wird. Aus diesem Anlass haben wir dieses Interview mit der französischen Schriftstellerin vom 27. November 2019 wiederholt.

Joachim Scholl: Annie Ernaux hat uns besucht, die schonungslose Ethnologin ihrer selbst, wie sie sich als Schriftstellerin bezeichnet – gerade erst ist eins ihrer gefeierten Bücher neu ins Deutsche übersetzt worden. Annie Ernaux wird uns davon und von ihrem Leben und Schreiben erzählen.
Man hat sie einen weiblichen Proust genannt, sie zu lesen sei aber auch ein Schock, denn wenige Schriftstellerinnen ihrer Zeit schreiben so radikal ehrlich, so schnörkellos über das eigene Leben wie Annie Ernaux. 1940 wurde sie geboren, heute zählt sie zu den bedeutendsten Autorinnen Frankreichs.
Inzwischen liest auch ein großes deutsches Publikum ihre Bücher und jetzt ist ein älteres in neuer Übersetzung erschienen, "Eine Frau" heißt es schlicht, das Porträt ihrer verstorbenen Mutter. Annie Ernaux war bei uns im Deutschlandfunk Kultur zu Besuch und ich habe sie als erstes gefragt, wie es für sie ist, sich jetzt wieder an ihre Mutter zu erinnern. Vor mehr als 30 Jahren ist sie gestorben. Das Buch hat Annie Ernaux direkt danach geschrieben.
Annie Ernaux: Was für mich absolut frappierend zu sehen ist, wie meine Mutter in gewisser Weise Literatur geworden ist durch die Lektüre. 30 Jahre, Sie haben es gesagt, sind vergangen. Dieses Buch hat so viele Leser gefunden, es hat sich im Grunde so eine Art Gemeinschaft gebildet, und durch diese Gemeinschaft der Lesenden existiert meine Mutter, so empfinde ich das.
Das Buch hat sich als solches ja auch abgelöst von mir. Das ist normal. Ich habe einen Abstand dazu gewonnen. Aber es ist etwas Spirituelles geblieben. Ich kann sagen, es ist in die Seele eingegangen, in die Sprache, und nicht nur in meine, sondern auch die der Menschen, die dieses Buch gewählt haben zu lesen. Ich habe einen Abstand gewonnen, aber ohne das Buch hätte ich das Gefühl gehabt, ohne es zu schreiben, ich hätte meine Mutter begraben. Und das ist absolut nicht der Fall.

Suche nach Wahrheit

Scholl: Sie schreiben auch von der "Suche nach einer Wahrheit über meine Mutter, die nur durch Worte gefunden werden kann", haben Sie diese Wahrheit gefunden?
Annie Ernaux
"Das Leben meiner Mutter ist etwas Zentrales für mich gewesen", sagt Annie Ernaux. © imago/ZUMA Press/Ulf Andersen/Aurimages
Ernaux: Es ist so: Diese Wahrheitssuche passiert während des Schreibaktes. Das Leben meiner Mutter ist etwas Zentrales für mich gewesen und es geht um die Wahrheit unserer Beziehung, die ich erkennen wollte.
Ich kann nicht sagen, dass ich die Wahrheit gefunden habe. Am Ende stand nichts Definitives. Es ist nicht so, dass ein Licht aufscheint, das wäre ja was Außerirdisches. Nein, das garantiert nicht. Was zählt für mich, ist die Suche selbst, im Schreibakt und durch das Schreiben, nur so war es mir möglich, ihr nahe zu kommen, es gab kein anderes Mittel, was für mich überhaupt denkbar war.
Erinnerung nutzt einem nicht wirklich, wenn man weiterkommen will, wenn man versucht, einen Charakter zu ergründen. Es geht um die Wiederbelebung und darum, dass ich einen Menschen wieder auferstehen lassen wollte.
Ich wollte sagen: Man schafft etwas anderes. Ich habe eine Frau erlebt und wiedererstehen lassen, die Arbeiterin war, die Händlerin wurde, die keine Bildung genossen hat, weil sie mit zwölf Jahren schon die Schule verlassen musste, aber die einen enormen Bildungshunger hatte und den sie weitergegeben hat an mich. Es war eine Frau, die gehofft hat, dass ihr einziges Kind, also ich, einen sozialen Aufstieg vollziehen könnte.
Sie selber ist natürlich in einer ganz anderen Epoche groß geworden, 1906 geboren, sie war eine Frau, die eine enorme Angst hatte vor Sexualität, vor intimen Beziehungen, und die das an mich weitergegeben hat. In ihren Augen war ich ein leichtes Mädchen, die mit den Männern schläft, ohne sich Gedanken zu machen.
Es gab zu der Zeit, in der ich eine junge Frau war, natürlich kaum Verhütungsmittel, also diese Angst, dass ich schwanger werden würde, die hat sie immens mitgenommen, und das ist etwas, was unsere Beziehung, unsere Tochter-Mutter-Beziehung geprägt hat.
Buchcover zu "Eine Frau" von Annie Ernaux
"Suche nach einer Wahrheit über meine Mutter, die nur durch Worte gefunden werden kann" - so beschreibt Annie Ernaux ihr Buch "Eine Frau".© Suhrkamp Verlag
Ich wollte mit diesem Buch eine Frau zeigen, oder sagen wir, ein Licht werfen auf eine andere Epoche, in der die Gesellschaft eine ganz, ganz andere war, und ich wollte etwas Unbekanntes entdecken. Gleichzeitig war da ein Zorn in mir, den ich gespürt habe, ein Zorn über die Ungleichheit der Lebensbedingungen.
Ich habe eine Schwiegermutter, und auch von der erzähle ich ja in diesem Buch, die eine bürgerliche Frau ist, eine bürgerliche Existenz geführt hat. Sie war die Antipodin, das Gegenteil zu meiner Mutter, sie hat nie Schwierigkeiten in ihrem Leben erfahren und in gewisser Weise hat ihre Existenz, denn ich habe in diese Familie eingeheiratet und sie war mir nah, einen Zorn in mir genährt, der dem Buch auch zugrunde liegt.

Ethnologin ihrer selbst

Scholl: Sie haben sich, Madame Ernaux, einmal selbst als Ethnologin ihrer selbst bezeichnet. Welchen Platz nimmt dieses Buch denn ein in dieser Ethnologie der Annie Ernaux?
Ernaux: Das Buch "Une femme", eine Frau, gehört zu demselben Vorgehen, mit dem ich versuche, meine Mutter in gewisser Weise zu objektivieren, also ihr Frausein zu objektivieren, sie nicht nur als meine Mutter zu betrachten. Das ging auch erst, nachdem ihr Tod tatsächlich eingetreten ist, nachdem sie nicht mehr auf der Welt war. Ich musste auch Abstand zu mir selber gewinnen. Ich habe eine ethnologische Beziehung zu mir selbst. In gewisser Weise habe ich auf mich als unwürdiges Kind, als undankbare, unwürdige Tochter geschaut.
Es reicht ja nicht, seine Mutter als eine Person zu betrachten, die ein bisschen was Vulgäres, Ungebildetes hatte, die keine bürgerlichen Verhaltensweisen an den Tag gelegt hatte – das stimmt, aber ich konnte es nicht anders tun, als ich es getan habe. Und ich war während des Schreibprozesses, der acht Monate gedauert hat, wirklich überwältigt von Emotionen, und die Gefühle für meine Mutter waren stärker als die, die am Wirken waren, als ich das Buch drei Jahre zuvor über meinen Vater geschrieben habe, das Buch "Der Platz". Ich habe das Buch "Eine Frau" ja unter dem ganz frischen Eindruck ihres Todes geschrieben. Ich habe begonnen in dem Moment, als ich erfahren habe, dass sie nicht mehr lebt.

Wertgeschätzt und fortgeführt

Scholl: Wenn man nun gerade diese beiden Bücher parallel liest, entsteht eine Art Soziologie von Milieu, Herkunft, dem Leben einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse in Frankreich. Zwei derzeit sehr populäre französische Schriftsteller, Didier Eribon und Édouard Louis, die ebenfalls diese Form literarischer Soziologie betreiben, beziehen sich ausdrücklich auf Ihr Werk, Madame Ernaux. Édouard Louis ist 50 Jahre jünger als Sie. Freut Sie diese Aufmerksamkeit auch für Ihre Arbeit?
Ernaux: Ich fühle mich natürlich geehrt durch das Interesse der beiden und die Wertschätzung, die sie meinem Werk entgegenbringen. Ich bin glücklich darüber, dass sich etwas fortsetzt und vielleicht sogar vervollkommnet von dem, was ich begonnen habe in den 70er-Jahren.
Etwas geht weiter, und die sozialen Spannungen, die sozialen Unterschiede, die existieren in Frankreich damals wie heute. Dass Menschen versuchen, von einer Klasse in die andere zu wechseln, natürlich gibt es auch das noch. Aber es ist doch so: Diese Sicht auf die Arbeiterklasse und die Mittelschicht, die über keine ökonomischen Mittel verfügt, genug Beziehungen zu knüpfen, um sich selber ein Netz zu schaffen und anders weiterzuleben, besser zu leben – diese Probleme, die gibt es.
Und es ist richtig, dass darauf geschaut wird und dass das ein Thema der Literatur ist. Viele Menschen können eigentlich auf nichts anderes hoffen, als das Leben ihrer Eltern fortzuführen. Und ja, sie schreiben politische Literatur, und ja, das ist in meinen Augen sehr wichtig.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hier können Sie das Gespräch mit Annie Ernaux auf französisch hören!
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