Annie Ernaux: "Eine Frau"

Sezierte Vergangenheit

07:20 Minuten
Annie Ernaux wurde 1940 geboren, heute zählt sie zu den bedeutendsten Autorinnen Frankreichs.
Annie Ernaux wurde 1940 geboren, heute zählt sie zu den bedeutendsten Autorinnen Frankreichs. © Suhrkamp Verlag
Von Helmut Böttiger · 20.12.2019
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Annie Ernaux erkundet in ihren Büchern eines der wesentlichen innenpolitischen Probleme: Die Kluft zwischen sozialer Herkunft und akademischem Milieu. "Eine Frau" ist eine stilistisch meisterhafte Studie über die eigene proletarische Mutter.
Annie Ernaux ist das Vorbild für einige zeitgenössische französische Schriftsteller, die wie zum Beispiel Didier Eribon die Malaise der französischen Provinz beschreiben, das karge Leben auf dem Land und die Klassengegensätze. Die 1940 geborene Ernaux hat als erste auf etwas aufmerksam gemacht, was mittlerweile als eines der größten innenpolitischen Probleme diskutiert wird: es ist die Kluft zwischen sozialer Herkunft und akademischem Milieu.
Annie Ernaux gehört jener Generation an, die in den westlichen Ländern als erste aus der Unterschicht aufsteigen konnte, danach dem Bildungsbürgertum angehörte und sich damit von den Ursprüngen entfernte – eine Erfahrung der Entfremdung, die erst dann schmerzlich bewusst wurde, als die abgehängten proletarischen und bäuerlichen Schichten "zuhause" nicht mehr kommunistisch wählten, sondern rechtsradikal. "Eine Frau" gehört neben den bereits auf Deutsch erschienenen Büchern wie "Der Platz" oder "Die Jahre" zu den charakteristischen autobiografischen Reflexionen von Ernaux, deren Aktualität erst jetzt so richtig wahrgenommen wird.

Szenen aus dem Langzeitpflegeheim

Man sollte sich vom schmalen Umfang auch dieses Buches nicht täuschen lassen. Es sind, bei aller vermeintlichen Schlichtheit, äußerst konzentrierte Sätze, bei denen vieles weggelassen wird und in denen jedes Wort schwer zu wiegen scheint. "Eine Frau": bereits der Titel kündet von einer spezifischen Distanz, einem Bemühen um Neutralität, das immer spürbarer wird, je stärker die Emotionen der hier Schreibenden berührt werden.
Es geht um die Mutter von Annie Ernaux. Und das Buch beginnt mit zögernden, sich vortastenden Sätzen über die Beerdigung dieser fremd gewordenen Frau, mit Szenen aus dem Langzeitpflegeheim und der Leichenhalle, in denen die wenigen wörtlichen Zitate grell und scharf herausstechen. Die Schreibende hält sich mit ihren eigenen Gefühlen dezidiert zurück, und dadurch wird das Buch zu einer Feldstudie ohne jegliches theoretische Vokabular.

Stilistische Meisterschaft

Es geht um Armut, um Kargheit, um die Last des Alltags, um kleine Freuden und um den kleinen Aufstieg vom Fabrikmädchen zur Inhaberin eines kleinen Lebensmittelladens mit Kneipe. Ernaux holt aus ihrem Gedächtnis in minuziöser Kleinarbeit charakteristische Details hervor, sie seziert die Vergangenheit. Es geht um genaue Beobachtungen, um die Kleider etwa oder bestimmte Wortfetzen. Es wurde wenig gesprochen, es gab keinen Ausdruck für Gefühle, man lebte durch Rituale und Sehnsüchte. Wenn etwa die Mutter, die ihren proletarischen Habitus nie ablegen konnte, sich Verhaltensweisen der "besseren" Kreise abzuschauen versucht, kommt es zu eindringlichen Momentaufnahmen.
Die Beiläufigkeit, mit der festgehalten wird, dass sich die Mutter die Hände wäscht, bevor sie ein Buch anfasst, bildet nur einen kleinen Teil der stilistischen Meisterschaft der Autorin. Der unscheinbare Ort Yvetot in der Normandie, in dem Annie Ernaux aufgewachsen ist und den sie immer wieder neu umkreist, bildet in der französischen Literaturgeschichte fast schon einen programmatischen Widerpart zu Marcel Prousts Combray.

Annie Ernaux: "Eine Frau"
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
88 Seiten, 18 Euro

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